Giftspur
Bankräuber, die mit ihren Taten in der Kneipe prahlten. Erpresser, die im Spiel mit der Polizei zu weit gingen. Unwillkürlich blitzte das Bild von Dagobert vor Sabines geistigem Auge auf und verschwand sogleich wieder.
Mussten die Morde und der Erpressungsversuch zwingend in einer Verbindung zueinander stehen? Ihre Schläfen begannen zu pochen, und ausgerechnet Rumpelstilzchen erlöste sie aus ihrem Hamsterrad.
»Was möchten Sie von mir wissen?«
»Wie man hört, hat Ihre Frau eine recht vielschichtige Beziehung zu einem der Mordopfer gehabt«, erklang Angersbach aus dem Hintergrund. Die Schonzeit war vorbei.
Sabine – eisern darauf bedacht, ein Pokerface zu wahren – fixierte indes Veras Gatten. Jegliche Gedanken, weshalb eine attraktive Frau wie sie sich an einen solchen Wurm binden sollte, waren ausgesperrt. Im Fokus ihres Blicks, der wie durch Scheuklappen vom Rest der Welt abgeschottet war, gab es einzig und allein Anselm Finke.
Eidetischer Blick.
Nur ein kurzes Aufflackern eines störenden Gedankenfetzens. Aber war nicht die Fähigkeit, verräterische Diskrepanzen zwischen Artikulation und Gebärdenspiel zu erkennen, viel wichtiger als ein fotografisches Gedächtnis?
»Ulf.« Da war nichts, nur basaltgleiche Starre. Er wiederholte den Namen. »Ulf Reitmeyer. Nennen Sie das Kind ruhig beim Namen.«
»Welches Kind?«
Ein Zucken der Augenbraue.
Oder doch nicht?
»Na, Tacheles, meine ich. Ich weiß doch von Veras Vergangenheit mit Reitmeyer.«
»Ach so«, lächelte Angersbach entschuldigend und winkte ab. »Ich hatte gedacht, es sei von einem Kind die Rede. Blödsinn, oder?«
Wunderbar.
Angersbach hatte die unerwartete Vorlage treffsicher verwandelt. Und nun zuckten auch die Augenbrauen.
Definitiv.
Doch Finke war nicht auf den Kopf gefallen.
»Habe ich irgendwo eine Pointe verpasst? Möchten Sie mir etwas mitteilen, was ich nicht verstehe?«
»Verzeihung«, erwiderte Sabine hastig. »Uns kam zu Ohren, dass Sie vor einigen Jahren ein Kind verloren haben. Tut mir leid für den Fauxpas.«
Finke atmete schneller. Seine Schultern begannen zu beben, er schien dies zu bemerken, räkelte sich und schlug das Bein übers andere. Sabine hatte mit ihrer vagen Aussage offenbar ins Schwarze getroffen. Wusste er von der Schwangerschaft? Wusste er, dass das Kind von Ulf war? Alles Antworten, die sie ihm mit ihrer offenen Formulierung nicht vorgegeben hatte. Finke knackte hörbar mit den Knöcheln seiner hageren Finger, die wulstig zwischen den Gliedern hervorstachen, und neigte dann mit betretener Miene den Kopf.
»Bitte. Das ist kein schönes Thema für uns. Kinder waren uns leider nicht vergönnt. Belassen wir es dabei.«
Er presste die Lippen aufeinander und sah zu Boden. Die Kommissarin ahnte, dass er nicht weiter darauf eingehen würde, und beschränkte sich auf ein nachdenkliches »Hm«.
Die Rechnung ging nicht auf. Vera war ungewollt schwanger geworden, und es stand seinerzeit nicht zur Debatte, dass Ulf sich von seiner Frau trennen würde. Er drängte auf einen Abbruch, und Vera hatte dem schließlich zugestimmt. Das Ganze wäre völlig plausibel, wenn die Schwangerschaft niemandem bekannt gewesen wäre und nicht in irgendwelchen Akten auftauchen sollte. Doch Anselm wusste Bescheid. Warum hatte Vera ihm nicht die frohe Kunde übermittelt, dass sie ihm ein Kind schenken würde? Zwischen Finke und Reitmeyer lagen keine Welten, sie waren weder Riese und Zwerg noch Chinese und Schwarzafrikaner. Alljährlich legten Frauen ihren Ehemännern Kuckuckskinder in die Wiege; gezeugt von Nachbarn, Kollegen oder Schwiegervätern. Das Risiko, dabei erwischt zu werden, lag selbst heute, in Zeiten der Genanalyse, noch immer im Minimalbereich. Trotz kostengünstiger Vaterschaftstests, die auf Papierhandtüchern in Herrentoiletten beworben wurden.
Direkt neben den Kondom-Automaten.
Zielgruppenorientierung in Perfektion.
»Dann unterhalten wir uns bitte ganz direkt über die Vorwürfe gegen Ihre Frau«, schlug Sabine vor. Ohne auf eine Reaktion zu warten, drängte sie weiter: »Emotionale Bande zu ihrem Chef, Zugang zu Lebensmitteln, Zugang zu seinem Wohnbereich … das sind die klassischen Faktoren. Motiv, Gelegenheit et cetera.«
»Aber meine Frau hat doch ein Alibi.«
»Wen denn, etwa
Sie?
«
»Ja, das sagte ich doch längst. Vera kann es nicht gewesen sein.«
»Herr Reitmeyer wurde vergiftet«, widersprach Angersbach kopfschüttelnd, und seine folgenden Worte klangen bitter durch den Raum. »Der
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