Gilbert, Elizabeth
höher. Letzte Ort ist Himmel.«
»Warst du schon mal im Himmel, Ketut?«, fragte ich ihn.
Er lächelte. Natürlich sei er schon dort gewesen. Das sei
kein Kunststück.
»Wie ist es denn dort?«
»Schön. Alle schön dort. Alle Leute. Alle Essen. Nur Liebe
dort. Himmel ist Liebe.«
Doch er kenne auch eine andere Meditation. »Nach hinab.«
Diese Meditation wiederum führe ihn auf die siebte Ebene unter der Welt. Sie
sei die gefährlichere. Nichts für Anfänger, nur für Meister.
Ich fragte ihn: »Wenn du also in der einen Meditation zum
Himmel aufsteigst, dann musst du doch in der anderen hinuntersteigen zur ...?«
»Hölle«, beendete er meinen Satz.
Das war durchaus interessant. Himmel und Hölle werden im
Hinduismus nicht gerade häufig erörtert. Hindus betrachten das Universum in
karmischer Hinsicht als ständigen Kreislauf, was bedeutet, dass man am Ende
seines Lebens nicht wirklich irgendwo »landet«, weder im Himmel noch in der
Hölle, sondern immer wieder »recycelt« wird und auf die Erde zurückkehrt, um
die beim letzten Mal nicht bewältigten Probleme zu lösen und etwaige Fehler zu
korrigieren. Hat man schließlich Vollkommenheit erreicht, scheidet man
endgültig aus dem Rennen aus und verschwindet in der Leere. Der Karma-Begriff
impliziert, dass es Himmel und Hölle nur auf Erden gibt, wo wir, abhängig von
unseren Schicksalen und Charakteren, entweder Gutes oder Böses hervorbringen
können.
Diese Vorstellung hat mir immer zugesagt. Nicht, weil ich
sie wortwörtlich nehme und etwa glaube, dass ich mal Kleopatras Barkeeper war.
Nein, eher im übertragenen Sinn. Die karmische Philosophie spricht mich auf
metaphorischer Ebene an, weil ja offensichtlich ist, wie oft wir sogar in einem
einzigen Leben immer wieder dieselben Fehler machen, uns an denselben Süchten
und Zwängen die Köpfe blutig schlagen und damit dieselben alten elenden und häufig
katastrophalen Folgen hervorrufen, bis wir endlich damit aufhören und unseren
Irrtum berichtigen. Dies ist die erhabene Lektion des Karma (und übrigens auch
der westlichen Psychologie): Kümmere dich um deine Probleme sofort, sonst
wirst du beim nächsten Mal aufs Neue leiden. Und diese Wiederholung des Leidens
- das ist die Hölle. Aus der endlosen Wiederholung herauszutreten und sich auf
eine neue Verständnisebene emporzuheben - das ist der Himmel.
Ketut aber sprach hier auf eine andere Weise über Himmel
und Hölle, so als seien sie reale Orte im Universum, die er tatsächlich besucht
habe. Wenigstens glaube ich, dass er das meinte.
Um mir darüber Klarheit zu verschaffen, fragte ich ihn:
»Du warst in der Hölle, Ketut?«
Er lächelte. Natürlich sei er dort gewesen.
»Wie ist es denn in der Hölle?«
»Genauso wie in Himmel«, sagte er.
Er sah meine Verwirrung und versuchte, es mir zu erklären.
»Universum ist ein Kreis, Liss.«
Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich ihn richtig
verstand.
»Nach hinauf, nach hinab«, sagte er, »am Ende alles
selbe.«
Ich erinnerte mich an eine alte Vorstellung der
christlichen Mystik: wie oben so unten. »Woran erkennst du dann den Unterschied
zwischen Himmel und Hölle?«
»Daran, wie ich bin gegangen. Nach Himmel, man geht
hinauf, durch sieben glückliche Orte. Nach Hölle, man geht hinab, durch sieben
traurige Orte. Deswegen Hinaufgehen besser für dich, Liss.« Er lachte.
»Du meinst, man kann sein Leben, statt durch sieben traurige
Orte hinabzusteigen, auch damit zubringen, durch die glücklichen Orte
emporzusteigen, da Himmel und Hölle - das Ziel - dasselbe sind?«
»Selbe-selbe«, sagte er. »Selbe in Ende, deswegen besser,
du machst glückliche Reise.«
»Wenn der Himmel also Liebe ist«, sagte ich, »dann ist die
Hölle ...«
»Auch Liebe«, ergänzte er.
An dieser seltsamen Gleichung herumrätselnd, blieb ich
eine Weile sitzen. Wieder lachte Ketut und tätschelte mir zärtlich das Knie.
»Immer schwer für junge Mensch, das zu verstehen!«
88
Und so lungerte ich an diesem Morgen wieder in Wayans Laden
herum, während sie darüber nachsann, wie man mein Haar zu schnellerem Wachstum
anregen könnte. Da sie selbst eine herrlich dichte Mähne hat, die ihr bis zum
Po hinunterreicht, tue ich ihr mit meinen dünnen blonden Zotteln Leid. Als
Heilerin kannte sie tatsächlich ein Mittel, das meinem Haar zu mehr Fülle
verhelfen würde, doch es würde nicht leicht werden. Als Erstes müsse ich einen
Bananenbäum finden und ihn persönlich fällen. Den »oberen Teil des
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