Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
nüchternen Erklärung wieder etwas. »Dann wollen wir mal sehen, ob ich seinen Geruch aufnehmen kann.« Mit angespannten Muskeln beugte sie sich über den Hals des Mädchens und atmete tief ein.
Zimt und Apfel.
Lieblich duftende Körperlotion.
Blut.
Haut.
Säure. Herb. Ein beißender Geruch. Interessant. Vielschichtig. Stechend, aber nicht widerlich.
Immer wieder war sie davon überrascht. Wenn Vampire auf die andere, die böse Seite wechselten, nahmen sie nicht auf wundersame Weise einen üblen Geruch an. Sie rochen wie immer. Wenn Dmitri dies täte, behielte er seinen Reiz, seinen verführerischen Schokoladenkuchensexgeruch mitsamt allen köstlichen Glasuren. »Ich glaube, ich habe es.« Aber sie vergewisserte sich noch einmal.
Sie wartete, bis Raphael sich ebenfalls erhoben hatte, und ging dann, nicht rechts noch links schauend, unter dem von der Decke baumelnden menschlichen Schlachtvieh hindurch. Behutsam setzte sie einen Schritt vor den anderen; sie wusste, wenn sie nur einen einzigen Tropfen Blut abbekäme, würde sie schreiend hinausrennen.
Tropf.
Ein Spritzer direkt neben ihrem Fuß. Nah, zu nah.
»Weit genug«, flüsterte sie und verharrte absolut reglos, um noch einmal die verschiedenen Duftschichten durchzugehen. Von hier aus war es schwerer, sehr viel schwerer. Angst und Schrecken hatten ihren eigenen Geruch– Schweiß, Urin, Tränen und andere dunkle, rätselhafte Körperflüssigkeiten– und überlagerten alles in diesem Raum. Wie ein schweres Parfüm überdeckten sie alle feineren Aromen.
Sie tauchte ein, doch es schnürte ihr die Kehle zu; mit einer Hand hielt sie sich den Mund fest zu, um nicht noch mehr einzuatmen. »Wann sind sie gestorben?«
»Schätzungsweise vor zwei oder drei Stunden, vielleicht auch später.«
Erstaunt blickte sie ihn an. »So schnell habt ihr den Tatort gefunden?«
»Gegen Ende hat er ein bisschen Lärm gemacht.« So eisig klang seine Stimme, dass Raphael gar nicht wiederzuerkennen war, doch anders als in der Phase der Stille war diesmal unterschwellige Wut zu spüren. »Ein Vampir aus der Nachbarschaft hat Dmitri sofort angerufen, nachdem er das hier entdeckt hatte.«
»Erst heute Morgen hast du zu mir gesagt, dass ich mir meinen Lohn sehr bald verdienen müsse. Hast du mit dem hier gerechnet?«
»Ich wusste nur, dass Uram in Kürze seinen kritischen Punkt erreichen würde.« Sein Blick wanderte über die albtraumartige Szene. »Das… nein, das habe ich nicht erwartet.«
Niemand sollte mit so etwas rechnen müssen– eigentlich durfte es so etwas gar nicht geben. Trotzdem gab es das. »Der Vampir– was wird mit ihm geschehen?«
»Ich lösche sein Gedächtnis, sodass er sich an nichts mehr erinnert.« Er sagte es ohne jede Regung.
Sie fragte sich, ob er das auch mit ihr vorhatte, doch jetzt war nicht der richtige Moment, ihn darauf anzusprechen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf die Gerüche. »Es hat keinen Zweck. Der Angstgestank überlagert alles. Ich muss mit dem auskommen, was mir der Körper des Mädchens gegeben hat.« Genauso vorsichtig, wie sie hereingekommen war, wollte sie auch wieder hinaustreten, und zwar ohne daran zu denken, was über ihr hing.
Tropf.
Ein Blutstropfen klatschte auf ihre glänzend schwarzen Stiefel. Ihr Magen hob sich. Mit schnellen Schritten eilte sie auf den Ausgang zu. Dass sie damit eine Schwäche eingestand, war ihr völlig gleichgültig. Die verdammte Tür war hinter ihnen ins Schloss gefallen und wollte sich einfach nicht öffnen lassen. Ihre Hand rutschte an dem feuchtwarmen Metall ab. Beinahe hätte sie angefangen zu schreien, da öffnete sie sich mit einem Schwung. Sie landete mit voller Wucht bäuchlings auf dem schwarzen, toten Erdboden des Hofes.
Die Sonne strahlte vom Himmel, als sie sich zur Seite beugte und sich übergab. Raphael kam hinzu und stellte sich neben sie, breitete seine Flügel aus, um sie vor der Sonne zu schützen. Sie winkte ab. In diesem Moment hatte sie Wärme nötiger– ihre Seele war erstarrt vor Kälte.
Wie lange sie so dagelegen hatte, wusste sie nicht, doch als sie aufstand, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Von den Vampiren, die sie fortgeschickt hatten? Illium? Schauten sie alle zu, wie eine Jägerin ihr Frühstück wieder von sich gab?
Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund und wischte sich die Lippen mit einem Zipfel ihres T-Shirts ab. Nicht eine Minute lang war ihr das Bild, das sie bieten musste, unangenehm. Wenn sie dieser Anblick kaltgelassen
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