Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
hat recht«, sagte Elena und fragte sich, warum Raphael ihr nicht schon früher von Urams Vernarrtheit in Michaela erzählt hatte. Vermutlich hatte es mit den Morden zu tun– vielleicht konnte ein Jäger einen Erzengel erst dann aufspüren, wenn er gemordet hatte. Aber Erzengel töteten viele Menschen. »Wir haben seine Witterung aufgenommen, und wenn er sich in Ihrer Nähe aufhält, dann haben wir einen Anhaltspunkt für unsere Suche. Ich wüsste gern in groben Zügen, wo Sie sich die meiste Zeit aufhalten.«
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte Raphael. »Jetzt möchte ich, dass Michaela dir erzählt, wie sie die Herzen bekommen hat, und du uns sagst, wie weit Uram in seiner Wandlung fortgeschritten ist.«
Elena sah ihn an und wurde dabei von der Sonne geblendet. »Woher soll ich das denn wissen?«
»Du hast doch schon Vampire gejagt, die auf die Seite des Bösen übergewechselt sind.«
»Ja, aber Uram ist doch kein Blutsauger.« Zu gerne hätte sie gewusst, wie und warum ein Engel überhaupt auf solche Abwege geraten konnte. Ihre Wut darüber, dass man sie stets im Dunkeln ließ, flammte wieder auf.
»Im Interesse dieser Jagd ist er das aber«, sagte Raphael mit stahlharter Stimme. »Michaela.«
Der weibliche Erzengel lehnte sich zurück. »Ich bin von einem Klopfen am Fenster wach geworden. Zunächst dachte ich, ein Vogel wäre dagegengeflogen und hätte sich in irgendetwas verfangen, also bin ich aufgestanden, um ihn zu befreien.«
Diese Geschichte schien so gar nicht zu der schönen und selbstsüchtigen Michaela zu passen, aber ihre Worte klangen aufrichtig. Vielleicht musste man Flügel haben, um in ihren Augen »menschlich« zu sein.
»Aber«, fuhr der Erzengel fort, »als ich am Fenster stand, war da kein Vogel. Gerade als ich mich abwenden wollte, fiel mir ein Bündel mitten im Vorgarten ins Auge. Ich dachte, ein Tier sei dort zum Sterben hingekrochen.« Kein Ekel, nur ein Anflug von Traurigkeit war zu spüren. Und wieder wirkte sie ehrlich.
In Michaelas Weltordnung nahmen Tiere offenbar eine höhere Position ein als Menschen. Nachdem sie gesehen hatte, wozu diese imstande waren, konnte Elena ihr eigentlich nur zustimmen.
Michaela holte tief Luft. »Ich bin auf den Balkon hinausgetreten und habe einen der Wächter gebeten nachzusehen. Wie Sie wissen, entpuppte sich das Bündel als Leinensack, in dem sieben menschliche Herzen steckten.« Sie legte eine kleine Pause ein. »Meine Wächter sagten mir, sie seien noch warm gewesen.«
26
Diesmal drehte sich Elena der Magen nicht um, denn sie war darauf vorbereitet gewesen. »All diese schrecklichen Einfälle wie Trophäen sammeln, die Opfer verhöhnen oder, wie in Ihrem Fall, Geschenke machen– das ist ein typisches Anzeichen für Vampire im ersten Blutrausch. Zu diesem Zeitpunkt gebärden sie sich eher wie Tiere als wie Menschen.«
»Das wussten wir bereits, Jägerin.« Michaela schaffte es, das letzte Wort wie eine Beleidigung klingen zu lassen, und erstickte damit alle freundlichen Gefühle, die in Elena in Anbetracht ihrer Tierliebe sonst vielleicht entstanden wären.
»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Sie war mit ihrer Weisheit am Ende und wollte auch keinen Hehl daraus machen. Soweit sie wusste, hatte noch nie zuvor ein Jäger einen Erzengel gejagt. »Aber ich sage Ihnen eines– Uram ist wesentlich mutiger als gewöhnliche Vampire. Er ist sogar schon bis zu Ihrem Fenster vorgedrungen und hat geklopft.« Michaela schauderte, an ihrer Stelle hätte es Elena auch kalt überlaufen. »Wenn er in diesem Tempo weitermacht, lässt er innerhalb einer Woche das Tierstadium hinter sich und geht mit kalter Berechnung ans Werk.«
»So schnell?«, fragte Raphael.
Sie nickte. »Bei den meisten Vampiren sind die ersten Morde schmutzig, so wie in diesem Fall. Aber hier kommt noch hinzu, dass er es heimlich getan hat. Er wusste, dass man ihn sonst schnappen würde.«
Raphael nickte verständig. »Und Vampire im Blutrausch denken meist nicht so weit.«
»Sechzig Prozent aller Vampire werden beim ersten Mord in ihrem Blutrausch gestellt.« In diesem Zustand zwischen Verzückung und Vernebelung nahmen die Vampire die Außenwelt nicht wahr. Einmal war Elena direkt auf einen zugegangen– er hatte nicht reagiert, auch nicht, als sie ihm die Halskette umgelegt hatte, auf dem Gesicht ein seliges Lächeln, die Hände noch auf der Brust des Opfers. »Ich habe den Eindruck«, fuhr sie fort und versuchte die Erinnerung an das damalige Erlebnis
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