Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
Zeit.«
An der Zeit, dass sie sich endlich an alles erinnerte, was sie lieber vergessen würde. »Ich will mit meinem Vater sprechen.«
30
»Er verdient deine Entschuldigung nicht.«
Elena fuhr hoch. »Wie kommst du darauf?«
»Deine Schuldgefühle lasten schwer auf deiner Seele.« Er fuhr ihr sanft mit der Hand über das Gesicht und beugte sich zu ihr vor, bis ihre Lippen nur noch einen Herzschlag voneinander entfernt waren. »Du wirst nicht vor ihm auf den Knien rutschen.«
Sie zuckte zusammen. »Aber ich bin schuld daran, dass Slater sich unsere Familie ausgesucht hat.« Daran war nicht zu rütteln.
»Und dein Vater ist daran schuld, dass der Rest eurer Familie entzweit ist.«
Darauf konnte sie ihm nichts erwidern – denn er hatte ja recht. Jeffrey hatte die Familie gespalten, an jenem Tag, als er sie hinausgeworfen hatte. Ihre Sachen auf dem gepflegten Rasen vor dem Großen Haus hatten wie ein Haufen Müll ausgesehen. Die Nachbarn in ihrer vornehmen Straße waren alle zu wohlerzogen, um sie anzustarren, aber sie hatte die bohrenden Blicke gespürt. Doch das hatte ihr nicht so viel ausgemacht. Für sie zählte nur, dass ihr Vater versucht hatte, ihren Willen zu brechen, und damit ihre ohnehin schon brüchige Beziehung vollends zerstört hatte.
»Auf die Knie und bettle, dann überlege ich es mir vielleicht noch mal.«
»Das steht zwischen uns«, sagte sie und legte die Hand auf Raphaels Herz. »Jetzt weiß ich endlich, dass er mich hasst, weil ich Slater angelockt habe.« Wie Dmitri war auch Slater in der Lage gewesen, Menschen mit seinem Duft zu betören, aber das war nicht sein einziges Talent gewesen. »Kann Dmitri mich aufspüren?«, fragte sie, und auf einmal schien etwas einzurasten.
»Ja.«
Kein Sterblicher, kein Jäger wusste davon. »So hat Slater es also gemacht. Er hat mich irgendwo gewittert und hat sich dann auf den Weg in unser Viertel gemacht.« Slater war noch viel zu jung, eigentlich hätte sein Geruchssinn noch gar nicht so ausgeprägt sein dürfen. Aber dieser Vampir war eben nicht normal, in keinerlei Hinsicht. »Ich habe gespürt, wie er sich uns genähert hat, der Wind hat seinen Geruch zu mir getragen.« Verzweifelt hatte sie ihren Vater zu warnen versucht, hatte ihn angefleht, auf sie zu hören, und am Ende hatte sie sogar getobt und gebrüllt.
»Genug jetzt, Elieanora.« Ein wütend hervorgebrachter Befehl. »Marguerite, ich glaube, du solltest aufhören, den Kindern Märchen zu erzählen.«
»Aber, Daddy …«
»Du bist eine Deveraux.« Ein stahlharter Blick. »Niemand in unserer Familie ist jemals ein Jäger gewesen. Und du wirst bestimmt nicht damit anfangen. Mit diesen Lügengeschichten überzeugst du mich jedenfalls erst recht nicht.«
Später hatte ihre Mutter sie dann tröstend in die Arme genommen, ihr versprochen, mit Jeffrey zu reden. »Gib ihm ein wenig Zeit, Azeeztee. Dein Vater ist sehr traditionell erzogen worden, er muss sich erst langsam an neue Ideen gewöhnen.«
»Mama, das Monster …«
»Vielleicht spürst du die Vampire, mein Liebling. Aber sie gehen einfach ihrer Wege.« Beruhigende Worte einer Mutter. »Nur weil jemand ein Vampir ist, bedeutet es nicht gleich, dass er böse ist.«
Mit ihren zehn Jahren fehlten Elena noch die Worte, um ihr begreiflich zu machen, dass sie den Unterschied zwischen Gut und Böse kannte und dass das Wesen, das sich ihnen näherte, sehr wohl böse war. Als sie dann endlich die Worte gefunden hatte, war es schon zu spät gewesen.
Die restlichen Tage verstrichen in wohltuender Gleichförmigkeit – die meiste Zeit verbrachte Elena damit, unter Raphaels Anleitung ihre Flugkünste zu verbessern. In ihrer Freizeit durchstreifte sie die Zufluchtsstätte, lernte immer mehr dazu und war eine bereitwillige Zuhörerin. Laut Jasons Informationen blieb ungeklärt, wo Anoushka und Dahariel sich aufgehalten hatten, als die Dolche der Gilde gestohlen wurden, aber es gab keine Möglichkeit, den Diebstahl einem der beiden Engel zur Last zu legen. Die guten Nachrichten waren, dass keine weiteren Dolche aufgetaucht waren und dass sich Anoushka und Dahariel – gemeinsam mit Nazarach – angeblich auf dem Weg zurück in ihre eigenen Gebiete befanden. Dennoch blieb Elena auf der Hut. Die ständige Wachsamkeit verlangte ihr neben dem täglichen Flugtraining noch zusätzliche Kraft ab, doch im Grunde war es ihr ganz willkommen, denn sie wollte nicht über ihre Schuld am Tod ihrer Schwestern – und letztendlich auch an dem ihrer Mutter –
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