Gilde der Jäger 02 - Engelszorn
seinem Alter nach zu urteilen traf das sicher zu, aber von seinem Gesicht war nicht mehr genug übrig, um es mit Sicherheit sagen zu können.
Ein Auge war völlig zugeschwollen. Bei dem anderen war die Augenhöhle auf heimtückische Weise so gründlich zertrümmert worden, dass man, hätte man nicht gewusst, dass dort eigentlich ein Auge hineingehörte, kaum hätte sagen können, wo die Wange aufhörte und das Auge begann. Seltsamerweise war sein Mund unversehrt geblieben. Unterhalb des Halses waren die Kleider richtig in seinen Körper hineingetrieben worden, Beweise von anhaltenden und wiederholten Fußtritten. Und seine Knochen … wie blutige, zerbrochene Zweige stachen sie aus etwas hervor, das wohl einmal eine Hose gewesen war.
Er bot einen erbarmungswürdigen Anblick, er musste furchtbar gelitten haben. Vampire wurden nicht so leicht ohnmächtig – und der Grausamkeit dieses Angriffs nach zu urteilen, hatten sich die Angreifer seinen Kopf als Letztes vorgenommen. Er musste beinahe das gesamte Martyrium hindurch bei vollem Bewusstsein gewesen sein. »Weißt du, wer er ist?«
»Nein. Dazu ist sein Kopf zu gequetscht.« Raphael ließ seine Arme mit solch Behutsamkeit unter den Vampir gleiten, dass sich Elenas Herz zusammenkrampfte. »Ich muss ihn zu einem Arzt bringen.«
»Ich warte hier und …« Auf einmal erstarrte sie vor Schreck, Raphael hatte den Körper umgebettet, um ihn besser anheben zu können. »Raphael.«
Die Luft knisterte vor Kälte. »Ich sehe es.«
Auf der Brust des Vampirs war ein Flecken unversehrter Haut, der so gar nicht ins Bild passen wollte, als wäre er mit Absicht ausgespart worden.
»Was ist das?« Denn wenngleich diese Stelle keine Quetschungen und blaue Flecken aufwies, war sie dennoch gezeichnet. In die Haut war ein Zeichen gebrannt worden. Ein lang gezogenes Rechteck, das am unteren Ende leicht ausgestellt war, saß auf einem Halbkreis, der wiederum eine kleine Schale bedeckte. Eine dünne, schmale Linie verband alles miteinander.
»Das ist ein Sekhem, ein mächtiges Symbol aus einer Zeit, in der die Erzengel noch als Pharaonen herrschten und als Nachfahren der Götter galten.«
Ihr Gesicht wurde abwechselnd heiß und kalt. »Jemand will Urams Platz einnehmen.«
Raphael gebot ihr diesmal nicht, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. »Verfolge du deine Spuren. Bis ich zurück bin, wird Illium auf dich achtgeben.«
Elena schaute Raphael nach, als er in den Himmel aufstieg, doch Illiums blaue Flügel konnte sie trotz des spektakulären Lichts des bevorstehenden Sonnenuntergangs nirgendwo sehen. Zum Glück schlotterten ihr die Beine erst jetzt, nachdem Raphael schon fort war. Heute schien der Erzengel sie endlich einmal verstanden zu haben – sie hatte das Gefühl, dass er von nun an immer erst einmal gründlich nachdenken würde, bevor er sie zu irgendetwas nötigte.
Aber nichts würde ihn davon abgehalten haben, sie einfach ins Bett zu stecken, wenn er gewusst hätte, wie erschöpft sie war. Ihre Flügel lagen zentnerschwer auf ihrem Rücken, ihre Waden waren nur noch Wackelpudding. Sie atmete tief durch und mobilisierte ihre letzten Reserven, dann begann sie um die Stelle herum, wo der Vampir gelegen hatte, mit ihren ersten Untersuchungen, froh, dass die Gegend, wenngleich nicht ganz verlassen, doch zumindest ein wenig vor allzu vielen neugierigen Augen geschützt war.
Folglich konnten auch nicht so viele Gerüche die Spur verunreinigen. Der Baum dort in der Ecke, eine Zedernart, deren Zweige vom Gewicht ihrer Nadeln tief herabhingen, roch längst nicht so intensiv wie eine Kiefer, deren Nadeln im Herbst den Boden bedeckten. Und der andere Geruch, den sie aufnahm, gehörte dem Vampir, den man bis zur Unkenntlichkeit verprügelt hatte. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte keinen einzigen weiteren Geruch ausmachen.
Auf dem Boden gab es kaum Anzeichen eines Kampfes. Abgesehen von ein paar vereinzelten Blättern, die der Wind herbeigetragen hatte, und deutlich sichtbaren Blutflecken in der Nähe des großen, dunklen Flecks, an dem sie den Körper gefunden hatten, gab es keine Hinweise auf dem Boden. Elena untersuchte den Tatort mit größter Sorgfalt, um sich ja kein Indiz entgehen zu lassen; sie kam zu dem Schluss, dass das Blutbad auf einen Radius von lediglich einem Meter beschränkt war.
»Wurde aus geringer Höhe fallen gelassen«, sagte sie zu Raphael, der gerade neben ihr gelandet war. »Und da es hier nur so von verschiedenen Flügeln
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