Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
war tatsächlich Fleisch, denn die Haut war von der Säure weggeätzt. An einer Stelle schimmerte der blanke Knochen durch, und der Anblick ließ sie würgen.
Sie spannte die Bauchmuskeln an, um gegen den Drang anzukämpfen, wischte sich die Tränen ab und holte tief Luft. »Nicht so schlimm, wie es hätte sein können .«
»Sie zielen auf die Augen « , sagte Illium, der wieder klar und einsatzfähig klang und vor dem Loch, das unter dem Podest im Stein klaffte, mit dem Schwert in der Hand Wache stand. »Gut, dass es da drin so dunkel war, sonst würden dir deine Augäpfel jetzt über das Gesicht laufen .«
Elena starrte ihn an. »Vielen Dank für deine aufmunternden Worte .«
Dieser verdammte blau geflügelte Idiot zwinkerte ihr mit seinen frappierenden Wimpern zu.
»Raphael, können wir ihn jetzt umbringen ?« , fragte sie halblaut, während sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sich Löcher in ihren Körper eingebrannt hatten.
Raphaels Knochen zeichneten sich unter seiner Haut ab, als er sie auf die Beine stellte. »Noch nicht, Elena. Vielleicht brauchen wir ihn noch .« Er sagte das mit einer solch kühlen Ruhe, dass sie für einen Augenblick glaubte, er habe sie ernst genommen.
Dann folgte sie seinem Blick in den dunklen Schlund der Kammer, in der sie gefangen gewesen war. »Nein .« Sie packte seinen Arm. »Du gehst da nicht rein .«
Er sah sie mit einer Arroganz an, vor der die meisten Lebewesen – sterbliche wie unsterbliche – in die Knie gegangen wären. »Lass mich, Gildenjägerin. Illium wird dich auf das Dach in Sicherheit bringen .«
»Sire … « , hub Illium an, in seinem Gesichtsausdruck lag jetzt keine Spur mehr von einem Lachen.
»Illium .« Ein einziges Wort. Ein Befehl.
Illium sah aus, als wollte er widersprechen, doch schließlich senkte er den Kopf. Elena jedoch war keine von Raphaels Sieben. Sie hatte seinen Befehlen nicht zu gehorchen. Sie baute sich vor ihm auf und verschränkte die Arme. »Wenn deine Mutter so mächtig ist « , sagte sie, »dann kann sie uns da draußen genauso gut gegenübertreten wie in diesem Loch .«
»Caliane ist es nicht gewöhnt, zu jemandem zu kommen .«
Sie hob eine Augenbraue und hoffte inständig, dass ihre nächsten Worte nicht ihren Tod bedeuten würden. »Oder sie ist nur dann mächtig, wenn ihre Beute in der Falle sitzt und allein ist. Du hattest noch nie Schwierigkeiten damit, jemanden am helllichten Tag kleinzukriegen .«
Der Tempel bebte unter ihren Füßen, zitterte so stark, dass sie fast gegen Raphael getaumelt wäre. Einen Augenblick befürchtete sie, das ganze Gebäude würde in sich zusammenstürzen und sie unter sich begraben. Doch dabei hatte sie nicht bedacht, dass Caliane in Amanat eine Göttin gewesen war – und ihr Volk schutzlos unter dem steinernen Dach schlief.
Als das Beben aufhörte, war alles wie vorher. Bis darauf, dass Raphaels und Illiums Blicke auf das Podest gerichtet waren. Auf das, was dort oben auf dem Stein zum Vorschein kam.
RaphaelstiegzumAltarhinauf – dennnichtsandereskonnteessein – undnahmwahr,dassseineGemahlinundIlliumihmfolgtenundsichmitgezogenenSchwerternnebenihnstellten.DochseineAufmerksamkeitgaltderSteinplattevorihm.SiewarzweiMeterlang,einenMeterbreitundvielleichtebensohoch,ineinemkühlenGrautongehaltenundfreivonVerzierungen.WiedieTürdarunterwirktedieSteinplattewieauseinemStück,dochandersalsbeiderTürwussteernicht,wieerdiesesRätsellösensollte.
Raphael.
Er berührte den Stein mit der ganzen Hand. Es ging Wärme von ihm aus, obwohl er hätte kalt sein müssen. Dann ließ er seine Schilde ein winziges Stück sinken. Mutter.
Er bekam keine Antwort, doch er wusste … »Sie ist wach .« Es war zu spät, um sie zu töten, während sie noch schwach und verwundbar schlief.
Hättest du das wirklich fertiggebracht, Raphael?
Ihre Stimme, diese wunderschöne, eindringliche Stimme drang bis in sein tiefstes Inneres vor, ließ ihn entblößt zurück. Ich bin ein Erzengel.
Ja. So viel Stolz lag in diesem einzigen Wort und in den unzähligen, die nicht gesagt wurden. Du bist der Sohn zweier Erzengel.
Er streckte die Finger auf dem Stein aus. Bist du bei Verstand, Mutter?
Das Lachen in seinen Gedanken war ihm so vertraut, dass es schmerzte. Ist irgendein Unsterblicher jemals wirklich bei Verstand?
Der Tempel erbebte wieder, doch dieses Mal war es anders. Staub und Felsbrocken regneten von der Decke herab. Raphael spürte den Hauch des Todes, bevor er die Macht eines anderen Erzengels wahrnahm.
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