Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
und so waren sowohl raffiniertes Timing als auch Glück nötig, damit Nivriti unentdeckt landen konnte. Mahiya war nicht mehr da, wo er sie zurückgelassen hatte – sie stand auf den Eingangsstufen des Tempels und hielt eine Armbrust in der Hand, der Bolzen war eingelegt und abschussbereit.
Er hätte fast gelächelt. Die Verärgerung in ihren goldbraun strahlenden Augen galt ihm, weil er einfach so verschwunden war, das wusste er, doch als ihr Blick auf Nivriti fiel, weiteten sich ihre Augen vor maßloser Überraschung.
Der dumpfe Schlag, mit dem die Armbrust auf dem Boden auftraf, riss Mahiya aus ihrer Schockstarre. Instinktiv bückte sie sich und hob die Waffe auf, ohne den Blick von der Frau abzuwenden, die auf sie zukam. Diese Frau trug eine lederne Kampfmontur, und ihre Flügel waren das Vorbild, nach dem Mahiyas erschaffen worden waren.
»Meine Tochter.« Hauchzart gesprochen; die Frau legte Mahiya eine Hand an die Wange, und auf ihrer Miene zeigten sich überwältigend tiefe Emotionen, die Mahiya das Herz zerrissen. »Für immer die Liebe meines Herzens.«
Diesmal beachtete Mahiya die Armbrust nicht weiter, als diese zu Boden fiel. Tränen strömten über ihr Gesicht, als sie auf ihre Mutter zuging und sich von ihr in die Arme schließen ließ.
In diesem Moment war es unwichtig, dass Nivriti ein Monster war, das einem Mann die Innereien herausgerissen und eine Frau gequält hatte, nur um ihre eigene Zwillingsschwester zu verletzen. Wichtig war nur, dass Mahiya zum ersten Mal in ihrem Leben voller Liebe in die Arme genommen wurde.
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Mit melodisch klingender Stimme murmelte Nivriti: »Sie wollte mich quälen, indem sie mir von deinem Leiden erzählte. Aber die Bestätigung, dass mein innig geliebtes Kind lebte, war das größte Geschenk, das sie mir machen konnte.«
Nivriti zog sich ein Stück zurück, umfing Mahiyas Gesicht mit beiden Händen und drückte die Lippen auf ihre Stirn. »Selbst als meine Flügel verfielen und meine Erinnerungen zu zersplittern drohten, habe ich darum gekämpft, am Leben und bei Verstand zu bleiben. Deinetwegen. Ich habe dich nie vergessen.«
»Ich dich auch nicht«, flüsterte Mahiya, denn was sie sich im Laufe der Jahrhunderte auch über ihre Mutter einzureden versucht hatte, Gutes wie Schlechtes, eines hatte sie nie getan: sie vergessen. »Du musst nicht gegen Neha in den Krieg ziehen.«
Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter veränderte sich, alle Weichheit schwand. »Doch, das muss ich. Sonst wird sie mich niemals in Frieden lassen. Meine geliebte Schwester muss sehen, dass mir Klauen und Zähne gewachsen sind.« Ein Lächeln, das Mahiya nicht deuten konnte. »Es ist schon seltsam, was im dunklen Untergrund wächst, während andere Dinge verrotten.« Nach dieser rätselhaften Äußerung schnellte ihr Blick zu Jason. »Ich hatte dir aufgetragen, sie von hier fortzubringen.«
Jason blieb unbewegt stehen. Ein dunkler Wächter. »Ich diene weder Ihnen noch Neha.«
Auf diese deutlichen Worte über seine Zugehörigkeit hin reagierte Nivriti nicht etwa verärgert, sondern mit einem entzückten Lachen. »Ich verstehe, was du an ihm findest«, sagte sie zu Mahiya. »Aber vergiss nicht, er ist nur ein Mann, du darfst ihm niemals vertrauen.« Hart wie Diamanten glitzerten ihre Augen, als sie die Flügel ausbreitete. »Wir sehen uns bald wieder, meine Tochter.«
Mahiya starrte zum Himmel hinauf, als ihre Mutter mit tadelloser Anmut davonflog, ihr Körper ließ keinerlei Spuren einer Gefangenschaft erkennen. »Meine Mutter lebt seit Jahren in Freiheit«, sagte sie schließlich. »Es muss mindestens ein Jahr gedauert haben, bis ihre Flügel nachgewachsen sind.«
»Vielleicht.« In Jasons Stimme lag ein unerwarteter Unterton.
»Was hast du gesehen, das mir entgangen ist?« Sie wusste, dass sie von ihren Gefühlen verwirrt war und sich nicht auf ihr eigenes Urteil verlassen konnte. Aber auf Jasons? Immer.
»Nivriti ist zu selbstsicher für einen Engel, der in den Krieg gegen ein Kadermitglied zieht.« Er sah zur Festung hinauf und verfolgte Nivritis Armee mit den Blicken. »Und sie fliegt mit zu viel Kraft und Geschicklichkeit für jemanden, der jahrhundertelang unter der Erde eingesperrt war.«
»Woher«, fragte Mahiya langsam, »hätten ihre Befreier überhaupt wissen sollen, wo sie war?« Sie gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu senken – die von der Bergfestung abfliegenden Soldaten machten mehr als genug Lärm.
»Loyalität ist nicht immer das, wonach sie aussieht.« Sacht
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