Gilgamesch - Der Untergang
zwar laut schreiend verfolgt, konnte aber nicht durch das kleine Loch im Zaun schlüpfen, der den ganzen Spielplatz umgab, und das sie am Tag zuvor ausgespäht hatte. Sie verhedderte sich mit ihrem neuen Kleid im Maschendraht, und bis sie sich losgemacht und den Zaun umrundet hatte, war Klara in den schmalen Straßen des Wohngebietes verschwunden. Sie hörte Tante Frieda noch rufen, doch es musste inzwischen eine größere Entfernung zwischen ihnen liegen.
Sie atmete auf und verlangsamte ihren Schritt. Ein Hochgefühl überkam sie. Sie war zwar klein aber nicht so hilflos, wie sie immer geglaubt hatte.
Klara rannte noch ein Stück und schlenderte dann gemächlich weiter einem Schild folgend, auf dem deutlich eine Eisenbahn abgebildet war. Es würde sie zum Bahnhof bringen und von dort wäre es nur noch ein Klacks nach Hause.
Es wurde bereits dunkel und begann zu schneien. Ein eisiger Wind pfiff zwischen den Häusern hindurch, sodass Klara anfing zu frieren, nachdem ihre erste Euphorie verflogen war. Verdammt. Sie hätte ihre warme Jacke und die Strumpfhose anziehen sollen. Vielleicht musste sie die Nacht im Freien verbringen, doch daran wollte sie nicht einmal im Traum denken. Papa hatte ihr von Leuten erzählt, die im Winter draußen eingeschlafen waren und am nächsten Morgen tot und steif gefroren gefunden wurden.
Sie würde müde werden, wenn sie noch lange durch die Stadt laufen musste, und außerdem hatte sie Angst vor der Dunkelheit. Sie überlegte, ob sie einfach an irgendeinem Haus klingeln und um Hilfe bitten sollte. Nein, das würde sie sich für den Notfall aufsparen, wenn sie den Bahnhof nicht fände, denn irgendwie hatte sie Angst, dass die Leute, die zu Onkel Paul gehörten, überall waren.
Sie wussten alles über sie und sie hasste es, dass sie nirgends alleine sein konnte.
Als sie um eine Straßenecke bog, bemerkte sie ein dunkles Auto, das langsam die Straße entlangfuhr. Sie stutzte und blieb stehen. War das nicht der Wagen von Onkel Paul? Die dunkle Limousine beschleunigte und hielt direkt auf sie zu. Klara geriet in Panik. Sie würde es ihnen nicht leicht machen, sie wieder einzufangen.
Also rannte sie so schnell sie konnte durch den Garten des nächstgelegenen Hauses. Es war eine große Villa mit alten Bäumen und einem See. Sie überlegte fieberhaft, ob sie am besten rechts oder links um den Teich laufen sollte, da hörte sie Tante Frieda wütend ihren Namen kreischen. Sie drehte den Kopf nach hinten, um zu sehen, woher ihre Verfolger kämen, da passierte es. Sie hatte die Entfernung falsch eingeschätzt, und als sie sich wieder umdrehte, setzte sie gerade den linken Fuß ins Leere. Klara ruderte mit den Armen, doch zu spät. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser, das so kalt war, dass ihr die Luft wegblieb. Es war tief, sodass sie nicht stehen konnte.
Panik ergriff sie, denn sie konnte noch nicht schwimmen. Sie ging unter, und ihre Kleider saugten sich mit der grünen Brühe voll. Sie wollte um Hilfe schreien, aber dabei füllte sich ihr Mund mit dem eisigen Wasser, dessen fauliger Geschmack so schlimm war, dass sie würgte. Sie würde sterben, und vielleicht stand Tante Frieda da oben und lachte, weil man sie endlich los war.
Dann geschah etwas Seltsames. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen und mit einem Mal verflog ihre Angst. Sie wurde ganz ruhig und öffnete die Augen in das Licht, das vom Grund des Sees heller und heller zu ihr hinauf strahlte. Aus dem Licht schwebte ein Mann auf sie zu, dessen Haut braun war wie Kakao. Er war lediglich mit einem Rock aus Leder bekleidet und barfuß. An seinem rechten Oberarm trug er einen silbernen Armreif. Als er näher kam, breitete er die Arme aus, so als wollte er sie umarmen.
Jetzt erkannte sie die Einzelheiten des Armreifs. Es war eine Schlange, die sich in den Schwanz biss.
Sie war so müde, doch dann dachte sie an die Geschichte von den steif gefrorenen Leuten, und dass sie nie wieder aufwachen würde, wenn sie jetzt einschliefe. Sie kämpfte verzweifelt dagegen an, konnte aber doch nichts tun. Die Augen fielen ihr zu und sie dachte noch einmal an Papa und Mama.
„Ich wollte doch nur zu Euch zurück. Bitte seid mir nicht böse. Ich hoffe, dass wir uns irgendwann einmal wieder sehen, doch jetzt muss ich mit ihm gehen“.
Der Mann aus Kakao flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und sprach in ihren Traum hinein:
„Er sagt, sein Name sei gefiederte Schlange , und ihr sollt Euch keine Sorgen um mich machen“.
Dann
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