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Gilgamesch - Der Untergang

Gilgamesch - Der Untergang

Titel: Gilgamesch - Der Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Geist
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südlicher Richtung davon. Es war kalt und windig, und Sven fror trotz der warmen Daunenjacke, die er übergestreift hatte.
    Der Schnee schluckte nach wenigen Schritten alle Geräusche hinter ihm und das Gefühl der Einsamkeit wurde geradezu körperlich. Noch vor zwei Wochen war seine Welt jene vertraute gewesen, in der er sich sicher bewegte, und in der kein Problem unlösbar schien, doch nun war alles anders gekommen.
    Ein Bild aus einem der Bilderbücher seiner Kindheit kam ihm plötzlich in den Sinn. Es war ein Wal, auf dessen riesigem Rücken Gras und Bäume wuchsen und Häuser standen. Kinder spielten auf seinem Rücken und die Menschen lachten und tanzten. Damals hatte er begriffen, dass die Leute auf dem Walrücken in einer trügerischen Sicherheit lebten, weil sie nicht ahnten oder nicht wahrhaben wollten, dass der Wal plötzlich tauchen und alles auf den Grund des Meeres reißen könnte. In seinem Unterbewusstsein haftete von diesem Moment an für immer die einfache Erkenntnis, dass das Leben zerbrechlich, und der Mensch nur ein Floh auf dem Rücken eines Wales war, dessen zerstörerischen Kräften er nichts entgegenhalten konnte.
    Er konzentrierte sich auf die Bilder, die ihm die Wärmebildkamera direkt auf einen kleinen Monitor vor dem linken Auge projizierte. Er musste ungefähr einen Kilometer weit gegangen sein, doch genau konnte er es nicht sagen, weil ihm das Schneegestöber das Gefühl für Zeit und Raum nahm.
    Da war etwas! Ein warmer Körper bewegte sich langsam auf ihn zu. Sven hielt an und sah sich um. Es gab mehrere Stellen, deren Temperatur sich von der kalten Umgebung abhob, und die in verschiedenen Orangetönen das graue Bild der Kamera aufhellten. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Es waren menschliche Körper, die der Aufprall des Flugzeugs zerrissen und gegen die massive Steinwand geschleudert hatte. Für einen Augenblick wurde die Sicht klar, und er erfasste das ganze Grauen der Szene. Eines der modernsten Passagierflugzeuge der Welt hatte sich an einer der ältesten Mauern der Welt in eine schaurige Mischung aus Stahlteilen und Körperfetzen bis zur völligen Unkenntlichkeit aufgelöst.
    Die Sicht verschlechterte sich wieder rapide. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und konzentrierte sich auf den warmen Körper, der sich auf ihn zu bewegte und eindeutig die Umrisse eines Menschen hatte.
    Niemand konnte so einen Absturz überleben. Die unwirkliche Erscheinung schälte sich schemenhaft aus dem Grau. Es war ein schmächtiger Mann mit einem langen weißen Bart. Ein schmutziger, weißer Umhang schien die einzige Bekleidung des Alten zu sein, der über den mageren Hüften durch einen Strick zusammengehalten wurde. Er fror nicht, obwohl er barfuß durch den Schnee stapfte.
    Der Greis sah Sven schweigend an, dann kletterte er die großen Steinquader mühelos zu ihm hinauf, stellte sich neben ihn auf die Mauer und richtete den Blick auf das Trümmerfeld, das noch einmal aus dem Dunst auftauchte.
    Sven sprach kein Wort, obwohl ihm tausend Fragen auf den Lippen lagen. Er hätte den Mann berühren können, wenn er nur den Arm ausgestreckt hätte, doch ein Gefühl der Ehrfurcht hielt ihn davon ab. Das war kein Passagier aus der Maschine. War er einer jener keltischem Druiden, die seit zweitausend Jahren das Heiligtum auf dem Odilienberg bewachten?
    Der Blick des Alten ruhte auf den menschlichen Überresten, den vielen unvollendeten Leben, den Schicksalen der Angehörigen und jener Kinder, die nie geboren würden, dann schloss er die Augen. Er zog einen korkenzieherartigen Stock aus seiner Kutte, breitete die Armen aus und begann in einem unverständlichen Singsang zu den unzähligen Leichen zu sprechen.
    Sven hegte die absurde Hoffnung, dass durch den uralten Zauber die Leichenteile zueinanderfänden und die Menschen ins Leben zurückkehrten. Da lagen Mütter mit ihren Kindern, Familienväter, auf die Ehefrauen, Töchter und Söhne vergeblich warteten, in der Hoffnung, dass sie den Absturz überlebt hätten.
    Er war plötzlich überzeugt, dass der Druide die Zeit zurückdrehen, dass er alles ungeschehen machen könnte. Er hoffte verzweifelt, dass die vielen Toten aufstünden und ebenfalls auf ihn zukämen, doch nichts dergleichen geschah.
    Der Greis beendete seinen Gesang, und Sven ahnte, dass es ein Totenlied gewesen war, ein Totenlied aus einer längst vergangenen Zeit.
    Der Druide schaute ihn ein letztes Mal mit seinen unergründlichen, dunklen Augen an, nickte traurig

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