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Gillian Shields - Der Zauber der Steine

Gillian Shields - Der Zauber der Steine

Titel: Gillian Shields - Der Zauber der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Band 3
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werden müsste. »Ich hätte es ihr gerne selbst gegeben, aber es ist wichtig, dass sie es überhaupt bekommt. Warte bitte hier.«
    Er eilte in die Sattelkammer und kam mit einem Briefumschlag und mit einem mehrfach gefalteten Zettel zurück.
    »Kannst du ihr diese Papiere geben? Niemand, außer Helen natürlich, darf sie sehen. Es sind unglaubliche Neuigkeiten. Gut, Evie kann es dir später ja erzählen.« Er drückte mir den Umschlag und den Zettel in die Hand. »Und sag ihr, dass ich sie gerne morgen treffen möchte, ja? Vergiss es bitte nicht. Danke dir, Sarah, du bist immer so nett.«
    Gute alte Sarah. Immer verlässlich. Josh ging in seinem wiegenden raumgreifenden Schritt davon. Ich wartete, bis er verschwunden war, und zwang mich, meine Neugier zu unterdrücken. Doch dann hielt ich es nicht mehr aus und faltete den Zettel auf. Liebe Evie, ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Komm morgen früh vor dem Frühstück ans Tor. Ich kann es kaum erwarten, was du dazu sagst …«
    Bumm, bumm, bumm … Mein Herz dröhnte, bis ins Mark getroffen, rasend vor Eifersucht und Verzweiflung. Warum störte mich das alles so sehr? Ich hatte versucht, stark und gut zu sein, aber niemand interessierte sich dafür. Ich blickte nach oben, und die Abendsonne blendete mich. Bumm, bumm, bumm. Die Hoffnung schwand mit jedem Schlag. Von den Hügeln schienen mich gierige Augen anzustarren. Die Trommeln kamen näher, aber ich wusste immer noch nicht, was sie zu bedeuten hatten.
    Ich wandte mich von der Stelle ab, an der Josh gestanden hatte, und lehnte meinen Kopf gegen Starlights Hals. Niemand konnte mir helfen. Niemand wollte mich.
    Mein Herz schmerzte, wenn ich daran dachte, was ich hätte erleben können, wenn Cal nicht weitergezogen wäre. Ich wünschte mit aller Kraft, dass ich aus Wyldcliffe davonreiten und Cal und seiner Familie folgen könnte, bis über den Horizont hinaus, hinein in ein anderes Leben.

Zehn
    Maria Melvilles Tagebuch,
Wyldcliffe, 6. April 1919
    Es war an einem Sonntag, auf dem Weg zur Dorfkirche, als ich die Roma das erste Mal sah. Wie üblich gingen wir in Zweierreihen, ein langer Zug von Mädchen in ihren Sonntagsmänteln und Hüten. Ich ging neben Violet Deane aus einer der unteren Klassen. Sie stotterte, deshalb wollte nie jemand neben ihr laufen. Arme Violet! Mir war ihre langsame Sprechweise egal. Unterwegs erklärte ich ihr die Namen aller Blumen und Bäume am Wegesrand. Einige kannte ich schon von zu Hause, andere hatte mir Miss Scarsdale beigebracht.
    »Maria Melville, wir können auf deinen Kommentar über die örtliche Flora gut verzichten«, schimpfte Miss Featherstone. Sie befahl mir zu schweigen, ein Gebot, das auch für alle anderen galt. Trotzdem lief plötzlich ein Raunen durch die Reihen wie ein Feuer, das sich durch trockenes Gras fraß.
    »Schaut nur! Auf dem Feld! Sie sind wieder da! Wir haben sie letztes Jahr schon gesehen, erinnert ihr euch?«
    »Und die bunten Karren! Sehen die nicht wunderschön aus?«
    Aber es gab auch andere Stimmen.
    »Der Mann starrt uns an.«
    »Wie schwarz seine Augen sind!«
    »Was für ein unverschämter Kerl! Das sollte verboten werden.«
    Nun war Miss Featherstone wirklich verärgert. »Meine Damen, nicht hinsehen, die Augen geradeaus! Und ich bitte mir Ruhe aus!«
    Aber das Lager war nicht zu übersehen. Über Nacht hatten es die Roma am Dorfrand aufgeschlagen. Es wirkte wie aus einem Märchen, bunt bemalte Holzhäuser auf Rädern und ein rauchendes Lagerfeuer und Hunde und Katzen. Und die Leute! Ich dachte, mein Herz müsste vor Aufregung zerspringen. Sie sahen aus wie ich, hatten schwarze Haare und dunkle Haut. In ihren Augen blitzte tiefe Weisheit, als ob sie weit in die Ferne und gleichzeitig ins Innerste meines Herzens blicken könnten. Ich stand da und starrte sie an, als ein etwa sechzehnjähriger Junge mich angrinste. Ich lächelte zurück. Das war meine Familie. Meine richtige Familie, wie Adamina und Stefan.
    »Maria Melville, hör auf zu starren wie ein Straßenkind«, zischte Miss Featherstone, »zwei Strafpunkte wegen schlechten Benehmens.«
    Danach gingen wir schweigend weiter bis zu der steinernen Kirche, die viel zu kalt und viel zu leer war, um meinem Gott eine würdige Heimat zu sein. Später verbot uns Miss Featherstone, ins Dorf zu gehen, dort hausten »unerwünschte Fremde«. Aber ich wusste, dass ich dieses Verbot brechen würde. Ich musste die Roma wiedersehen, besonders den Jungen mit den pechschwarzen Haaren und den lachenden

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