Gillian Shields - Der Zauber der Steine
schützen unsere Schwestern gegen Hass und Rache, am Tag und in der Nacht, bei Sonne und bei Sturm.«
Eine Feuerzunge schoss am Rand des Kreises entlang. Dann hörte man Agnes’ ferne, undeutliche Stimme: »Es ist vollbracht, meine Schwestern. Zerstört den Zauber nicht. Lasst ihn euch beschützen, heute, morgen und für alle Zeit.«
»Heute und für alle Zeit.«
Die Beschwörung war vollbracht. Die Flammen erloschen, und mit ihnen verschwand auch Agnes. Miss Scratton sagte: »Gut gemacht.« Aber als wir gerade unsere Hände voneinander lösen wollten, veränderte sich mit einem Mal die Situation. Sturmböen peitschten um die Ruinen, zerrten an unseren Kleidern und Haaren und nahmen uns fast den Atem. Die Luft war erfüllt von furchterregenden, schluchzenden und heulenden Stimmen. »Haltet euch fest an den Händen«, befahl Miss Scratton, »lasst nicht los! Habt keine Angst!«
Wieder tauchten die schattenhaften Frauen auf, aber jetzt konnte ich ihre Gesichter unter den Schleiern erkennen. Bleiche, gottgefällige Gesichter voller Angst, ins Gebet vertieft. Als eine Horde Krieger mit Schwertern und Keulen in die Kapelle stürmte, stoben sie auseinander wie ein Vogelschwarm. Dumpfe Schläge, gellende Schreie und das Geräusch von splitterndem Glas gruben sich in mein Hirn. Dann flackerten die Schatten und veränderten ihre Form. Eine neue Gruppe von schwarz gekleideten Frauen trat in mein Blickfeld, die eine verhüllte, schwere Last trugen. Sie taumelten und stolperten – dann sah ich, was sie schleppten. Fast hätte ich vor Entsetzen das Gleichgewicht verloren. Es war der Leichnam von Laura, ihre Lippen blau, ihre leeren Augen weit aufgerissen. Ich wurde Zeugin, wie sie von den Dunklen Schwestern heimlich zum See gebracht und dort versenkt wurde. Ich wollte schreien, doch Miss Scratton umklammerte meine Hand und flüsterte: »Halte durch! Schau nicht hin!«
Das schreckliche Bild verschwand, und die Luft begann wieder zu flimmern. Jetzt sah ich Agnes wieder. Erst war sie vor mir, im nächsten Moment hinter mir, dann stürmte sie vorbei, ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar floss ihren Rücken hinab. Ein blendend aussehender junger Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen rannte über das Gras auf Agnes zu. Er strotzte vor Energie und Selbstvertrauen, als ob nichts ihn aufhalten oder ihm seine strahlende Jugend nehmen konnte.
»Sebastian, Sebastian!«, schrie Evie verzweifelt. Aber weder Agnes noch Sebastian konnten uns sehen oder hören. Die Bilder wechselten von einer Szene zur nächsten. Agnes und Sebastian saßen unter einem der verfallenen Torbögen und lasen. Dann trugen sie einen Picknickkorb zum See. Erst lachten sie, dann stritten sie, offenbar waren sie in eine heftige Diskussion verstrickt. Und dann, das entsetzlichste Bild von allen, taumelte Sebastian auf den Gras überwucherten Altarhügel zu, Agnes’ leblosen Körper in seinen Armen. Er weinte und verfluchte sich selbst. Ich war wie gelähmt und starrte ihn an, während Evie versuchte, ihre Hand aus meiner zu lösen und zu ihm zu rennen.
» NEIN !«, schrie Miss Scratton. »Nicht den Kreis brechen!«
Sebastian taumelte immer näher, so dass ich ihn hätte berühren können, und dann, so plötzlich wie er gekommen war, flaute der Wind ab, die wehklagenden Stimmen verstummten, und die Schatten von Sebastian Fairfax und Lady Agnes Templeton verschwanden.
»Es ist vorbei.«
Miss Scratton trat aus dem Kreis. Die schimmernden Mauern der Klosterkapelle verschwammen und verwandelten sich in die vertrauten Ruinen. Wir waren zurück in der Realität, was immer das auch bedeuten sollte.
Evie weinte und schluchzte verzweifelt. Noch nie hatte ich sie so am Boden zerstört erlebt. Ich wollte zu ihr gehen, um sie zu trösten, doch etwas hielt mich zurück. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich beneidete sie in diesem Moment, dass es etwas so Wertvolles in ihrem Leben gab, selbst wenn sein Verlust sie so sehr leiden ließ. Als sie die Hände vors Gesicht schlug, griff ich nach dem Buch, das auf der feuchtkalten Erde gelegen hatte. Agnes’ Worte aus ihrem Tagebuch kamen mir wieder ins Gedächtnis. Wenn es an mir wäre, dann würde ich dieses Buch in den See werfen und im tiefen Wasser versinken lassen, so dass es nie wieder auftaucht. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber tief in meinem Inneren konnte ich nun verstehen, warum Evie nichts mehr mit dem Mystischen Weg zu tun haben wollte. Die Erinnerung an Sebastian und ihre Liebe zu ihm waren fast
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