Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
lügst!« Er drückte mich mit der manischen Kraft eines Besessenen gegen die Wand. »Gib ihn mir! Meine letzte, meine einzige Hoffnung. Ich kann dieser Qual entkommen, selbst jetzt noch, obwohl es schon so spät ist. Ich werde derjenige sein, der zerstört – nicht der, der zerstört wird. Ich werde dich töten, um mich zu retten.«
»Nein, Sebastian«, flehte ich. »Nein!«
»Damals habe ich es nicht richtig verstanden«, fauchte er. »Damals habe ich diese Qualen noch nicht gekannt. Doch jetzt, da ich in den Abgrund hineinsehen kann, habe ich nicht vor, als Sklave zu leben. Ich verdamme mich nicht selbst dazu, zu schrumpfen und zu verblassen. Ich werde zu einem der mächtigen Unbesiegten werden und als König in immerwährender Nacht leben. Und du wirst mir helfen, wie du es versprochen hast. Gib mir das Erbstück, das Agnes dir hinterlassen hat.«
»Das kann ich nicht.«
»Du meinst, du willst es nicht? Aber eigentlich müsste es ohnehin mir gehören; Agnes hätte gewollt, dass ich es bekomme.« Sebastian legte mir die Hände um den Hals und suchte nach dem Talisman. Er packte so fest zu, dass es schmerzte. »Was ist das?«, schrie er, als er Marthas Medaillon fand. »Wo ist der Talisman? Du … du wagst es, mich reinzulegen – mich zu verraten?«
Verzweifelt griff ich nach dem Dolch in meiner Tasche, um mich zu verteidigen, aber er war schneller als ich. Er entriss ihn mir mit einem schmerzhaften Ruck und drückte mir die Klinge an die Kehle.
»Du wirst mir den Talisman geben«, knurrte er, »und nicht diesen wertlosen Müll.« Er riss mir das Medaillon vom Hals und warf es wütend in die Glut. Sofort loderte eine Flamme im Kamin auf, und eine Stimme erklang: »Ich bin bei dir, meine Schwester.«
Ich sah in meinem Geist einen Ring aus blendend weißem Feuer und hörte Agnes das Wort der Macht sprechen. Dann sprach ich es laut, und eine Wand aus Flammen wuchs rings um mich wie strahlende Bäume in die
Höhe. Sebastian wurde in die andere Ecke des Zimmers geschleudert. Er streckte seine Hände wieder nach mir aus und rief: »Nein, nein, nein! Komm zurück!« Aber das Feuer riss mich von ihm weg wie eine Sternschnuppe, und ich wurde über die Begrenzungen dieser Welt hinausgeführt und in ein Meer aus nie endendem Licht getragen.
Als ich die Augen wieder öffnete, kauerte ich vor dem schmiedeeisernen Tor der Schule. »Nein, nein, nein«, schluchzte ich.
Nein, nein, nein ... Komm zurück, komm zurück, komm zurück …
Ich wusste kaum, wo ich war, oder was ich sagte. Ich wusste nur, dass Sebastian mich schließlich doch verraten hatte, und dass unsere Liebe beendet war.
Es gibt viele Arten von Verrat. Manche sind klein: ein unfreundliches Wort, ein Lachen hinter jemandes Rücken, armselige Lügen. Und dann gibt es den Verrat, der einem das Herz bricht, der Welten zerstört, und der das stärkste, süßeste Licht des Tages in bitteren Staub verwandelt.
Zweiundvierzig
D ie Vögel hatten bereits zu singen begonnen, und der Himmel wurde heller. Ich zwang mich dazu, mich zu bewegen. Als ich aufstand, hörte ich von der Straße her leises Hufgetrappel. Einen verrückten Moment lang dachte ich, Sebastian wäre gekommen, um mich zu finden, aber dann erkannte ich die vertraute Gestalt von Josh, der bei Tagesanbruch auf seinem grauen Pferd zur Schule ritt. Er sah mich und stieg schnell ab.
»Evie, was um alles in der Welt tust du hier draußen? Was ist los?«
Ich stürzte mich in seine Arme und fing an zu weinen, als würde ich in Kummer ertrinken.
»Schsch, Evie, schsch, es ist alles in Ordnung; ich bin ja da.« Er wiegte mich sanft wie ein Kind, und irgendwann ging der Sturm vorüber. Meine Tränen versiegten.
»Es tut … es tut mir so leid, Josh«, stammelte ich. »Ich gehe jetzt wohl besser zurück zur Schule. Wenn sie merken, dass ich weg war, stecke ich echt in Schwierigkeiten. «
»Steckst du nicht so schon in viel größeren Schwierigkeiten? «, fragte Josh. »Was ist los, Evie? Ich vermute, du hast dich rausgeschlichen, um deinen Freund zu treffen. Wenn er dir etwas getan hat …«
»Nein«, sagte ich rasch. »Nein, so ist es nicht. Es ist … es ist nicht sein Fehler.«
»Was ist es dann?«
Ich seufzte. »Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, aber du würdest mich für verrückt halten.«
»Versuch es einfach.«
Ich sah in sein ehrliches Gesicht und stellte fest, dass in seinen Augen aufrichtige Anteilnahme stand. Ich sehnte mich danach, ihm mein Herz öffnen zu können.
»Die Sache
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