Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
»Agnes ist gestorben, und wir wissen, dass sie ihre Reise fortgesetzt hat; sie lebt in der nächsten Welt im Licht, wie der Schöpfer es geplant hat. Aber Sebastian …« Ich rang nach Luft, und dann zwang ich mich, die schrecklichen Worte auszusprechen. »Sebastian wird für alle Ewigkeit ein Dämon werden, unerreichbar für Gebete oder Hoffnung. Endlose Nacht, endloses Leiden, für Gott verloren und für die Menschheit verloren. Für mich verloren. Sprich mir nicht vom Tod! Der Tod ist ein Geschenk, ein Tor und eine Erlösung. Aber das hier … das ist Übel, das über den Tod hinausgeht!«
Wir schwiegen; dann versuchte ich, noch etwas zu sagen. »Hört zu, es tut mir leid. Es bringt nichts, über Sebastian zu sprechen. Der Neumond wird aufgehen, und danach wird alles vorüber sein. Ich dachte, er würde mich lieben. Ich dachte, ich könnte seine unsterbliche Seele retten. Ich habe mich in beidem geirrt. Aber danke dafür, dass ihr versucht habt, mir zu helfen. Ihr wart wunderbar. «
»Wir sind immer noch für dich da, Evie«, sagte Sarah. »Wenn wir irgendetwas für dich tun können …«
»Schwestern bis zum Ende«, fügte Helen hinzu.
Danach gab es nichts mehr zu sagen.
Ich überquerte den Stallhof und ging rasch in meinen Schlafsaal, um mich umzuziehen. Die anderen Mädchen waren bereits zum Frühstücken gegangen. Ich würde zu spät in die Stunde kommen, aber das kümmerte mich nicht. Was kümmerte mich jetzt überhaupt noch? Ich musste lernen, wieder ohne Sebastian zu leben, ohne Hoffnung und ohne Liebe.
Dreiundvierzig
I m dritten Stock war alles ruhig, abgesehen vom Geräusch eines Besens, als eine der Reinigungsfrauen anfing, den Korridor zu fegen. Ich ging an ihr vorbei und direkt in meinen Schlafsaal. Als ich jedoch die Tür aufstieß, blieb ich verblüfft stehen. Jemand kauerte über dem kleinen Schränkchen neben meinem Bett und durchwühlte meine persönlichen Sachen. Es war Harriet.
»Was zum …?«
Ein Teil meiner Sachen lag auf einem Haufen auf meinem Bett – die Briefe von Dad, meine Fotos von zu Hause und ein paar Blatt Papier, auf denen etwas in einer kleinen, schwarzen Schrift stand. Es war Agnes’ Schrift. Ihr Tagebuch war in Stücke gerissen worden.
»He! Hör auf! Was fällt dir ein?« Ich raste zu ihr und zerrte sie von meinen Sachen weg.
»Ich wollte meine Kette finden«, jammerte sie. »Jemand hat gesagt, dass du sie mir damals aus Spaß weggenommen hast.«
Ich starrte Harriet vollkommen ungläubig an. »Wieso um alles in der Welt sollte ich so etwas tun? Natürlich habe ich deine Kette nicht! Wer hat das behauptet?«
»Celeste. Sie hat gesagt, dass sie gesehen hat, wie du sie in deiner Kommode versteckt hast.«
»Celeste? Celeste?« Ich kochte vor Wut. »Nach allem, was ich für dich getan habe, hast du dich entschieden, ihr zu glauben?« All meine Angst und mein Kummer wallten brodelnd in mir auf und strömten wie Gift aus mir heraus. »Wie kannst du es wagen, meine Sachen anzurühren, ohne mich zu fragen? Und sieh nur, was du mit diesem Buch gemacht hast. Es ist vollkommen unersetzlich! Das werde ich dir nie verzeihen!« Ich sammelte die Stücke von Agnes’ Tagebuch mit zitternden Händen ein und versuchte, die zerrissenen Seiten glattzustreichen. Harriet saß auf dem Bett; ihre Schultern waren nach unten gesunken, und sie hielt den Kopf gebeugt.
»Es tut mir leid, Evie. Ich weiß nicht, wieso ich das getan habe.« Sie begann, voller Selbstmitleid vor sich hin zu jammern. »Ich fühle mich irgendwie komisch. Ich höre Dinge, ich kann nicht schlafen. Da ist die ganze Zeit diese Stimme in meinem Kopf …«
»Oh, halt den Mund«, schnappte ich. Noch nie in meinem Leben war ich so wütend gewesen.
»Aber, Evie …«
Ich stürzte aus dem Schlafsaal, noch immer vor Wut zitternd. Ich hatte dieses Mädchen noch nie gemocht; ich hatte mich gezwungen, nett zu ihr zu sein und ihr zu helfen – und wie hatte sie mir das jetzt zurückgezahlt? All das Gerede darüber, dass sie mit Agnes verwandt war und mit mir befreundet sein wollte, dass sie einsam war und Stimmen in ihrem Kopf hörte – das war alles nur ein Haufen zügelloser, um Aufmerksamkeit heischender Müll, und ich hatte genug davon. Sie lief hinter mir her.
»Bitte, Evie. Ich muss dir etwas sagen. Es wird schlimmer. Ich habe Angst.«
»Lass mich in Ruhe!«
»Aber ich muss mit dir reden, und du hast gesagt, ich könnte …«
Ich fuhr herum und funkelte sie an. Ich hasste ihr ängstliches Gesicht und ihre
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