Gillian Shields - Die Schwestern der Dunkelheit - 02
habe ein Messer. Es heißt, ein kleiner Schnitt genügt bereits, und man braucht dann einfach nur darauf zu warten, dass das Ende kommt. Lebewohl. Ich werde dich nicht wieder belästigen. Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.
Harriet Templeton
»Oh, Gott!« Ich konnte es kaum glauben. Ein Schwächegefühl überkam mich, als ich die Nachricht noch einmal las und versuchte, mir alles so zusammenzureimen, dass es einen Sinn ergab. Harriet konnte nicht so weitermachen … Jetzt bedauerte ich die schroffen Worte, die ich zu ihr gesagt hatte, bitterlich. Aber wie hätte ich ahnen können, dass sie derart verzweifelt reagieren würde? »Mein Gott, wir müssen etwas tun. Ich muss ihr helfen.«
»Sollten wir vielleicht die Polizei rufen?«, fragte Helen, deren Augen im Fackellicht groß und besorgt wirkten. »Oder vielleicht auch einen Arzt?«
»Die Telefonverbindungen werden wegen des Stromausfalls nicht funktionieren«, sagte Sarah. »Was ist mit den Lehrerinnen? Eine von ihnen …«
»Nein!«, sagte ich. »Wir können niemandem vertrauen. Und sie machen sich auch gar nichts aus den Mädchen. Ihnen alles zu erklären würde die Sache nur verzögern. Wir müssen selbst gehen. Wenn Harriet gerade erst weggegangen ist, können wir sie vielleicht noch daran hindern, irgendetwas Dummes zu tun. Wir können sie zur Schule zurückbringen, bevor auch nur irgendjemand etwas davon mitbekommt. Die Verwirrung wegen des Sturms wird uns helfen. Und dann setzen wir uns irgendwie mit ihrer Mutter in Verbindung. Sie ist es, die sie wirklich braucht.«
Plötzlich brauchte auch ich meine Mutter. Bitte hilf mir , betete ich stumm, während wir den unbeleuchteten Korridor zu einem der vielen Seiteneingänge entlangliefen. Wir kamen an einer Garderobe vorbei und rissen irgendwelche Mäntel von den Haken, dann stürzten wir nach draußen. Der Regen schlug mir ins Gesicht, und
der eisige Wind raubte mir den Atem. Der Sturm wütete, als wir auf die lange Auffahrt zurannten, die zu dem schmiedeeisernen Tor und zur Straße zum Dorf führte, auf dessen Friedhof sich das Grab von Lady Agnes unter den Eiben befand. All die mutigen Boten des Frühlings, die sich in den letzten Tagen gemeldet hatten – die winzigen grünen Schösslinge, die zitternden ersten neuen Blätter – würden in dieser Nacht in Stücke gerissen werden. Bitte, lass uns rechtzeitig kommen , betete ich. Ich hatte Sebastian nicht retten können, aber vielleicht konnte ich wenigstens Harriet retten, die arme traurige Harriet mit ihrem kranken, fiebrigen Geist.
Als wir außer Sichtweite der Schule waren, hüllte Helen uns in ihre Kräfte, und einen Augenblick später kamen wir auf dem einsamen Friedhof an. Die schwarzen Bäume schwankten im Sturm, und die kleinen Häuschen im Dorf dahinter waren in Dunkelheit gehüllt.
»Harriet? Harriet!«
Als einzige Antwort war das Heulen des Windes und das Ächzen der Bäume zu hören.
Wir liefen zwischen den Reihen schief stehender Grabsteine hindurch zu einem etwas abseits liegenden Grab. Es hatte einen altmodischen Grabstein, der von der Statue eines Engels überragt wurde. Das Gesicht des Engels war im Laufe der Jahre abgetragen worden, und so blickte er jetzt mit ausdrucksloser Miene drein, eine Schriftrolle mit einer einfachen Inschrift haltend:
LADY AGNES TEMPLETON
GELIEBT VOM HERRN
Harriet stand mit dem Rücken zu uns im Regen und starrte den Engel an. Und am Fuß der Statue kauerte Sebastian, sterbend und den Blick voller Entsetzen auf sie gerichtet.
Vierundvierzig
S ebastian?«
Er hob sein hageres Gesicht in meine Richtung. Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte, und für einen Moment stand ich einfach nur wie gelähmt da. Dann hob Sebastian eine Hand und deutete keuchend auf Harriet. »Nein … nein … nein …«
»Harriet, was ist los?«, rief ich. »Was tust du da?« Harriet drehte sich mit einem eigenartigen Lächeln zu mir um. Sie hielt Sebastians silbernen Dolch in der Hand und zog ihn sich leicht über ihr Handgelenk.
»Nein – warte!«, rief Sarah. Aber Harriet führte die Klinge weiter. Ein einzelner Blutstropfen fiel von ihrem Handgelenk auf Agnes’ Grab. Harriets Gesicht verkrampfte sich, und sie verdrehte wild die Augen. Ein unterdrücktes Geräusch drang tief aus ihrem Innern. »Ich … bin … nicht … Harriet.« Ihr Atem kräuselte sich und wurde im kalten Wind dicht wie Rauch. »Ich … bin … Celia … Hartle.«
Der Rauch verwandelte sich in eine aufgeblähte Gestalt, die
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