Ginster (German Edition)
längst von Q. weg«, meinte Ginster, »Kanäle gibt es in vielen Städten.«
»Auch Bauräte …«
»Pardon« – Stadtbaurat Schmidt war eingetreten, blieb aber an der Tür, als er Wenzel erblickte. »Wenn Sie später Zeit haben … ich möchte Sie sprechen«, sagte er zu Ginster und entfernte sich schleunig.
»Dunkler Stunk«, gähnte Wenzel wieder. Er verschwand gleichfalls, die Bürojacke gewellt wie feuchtes Papier.In einem dunklen Korridor traf Ginster den Stadtsekretär, der ihm zulächelte. Sein Gehrock blieb immer ernst. Wenn Ginster an den schwarzen Senkrechten vorüberkam, hatte er stets ein schlechtes Gewissen; als verlasse er das Restaurant, ohne die Rechnung bezahlt zu haben. Auch wurde er das Gefühl nicht los, daß Hermann Material gegen ihn sammle. Der Stadtbaurat empfing ihn mit Beschimpfungen, die wie Steinkugeln aus alten Geschützen prasselten.
»Der Lumpenkerl. Faulenzt den ganzen Tag. Schmeißen Sie ihn heraus, wenn er sich bei Ihnen herumdrückt.«
Ein Getöse, das zum Glück nur Wenzel bedrohte. Man hätte die Kugeln zu Pyramiden schichten können. »Die Kanäle sind doch von selbst …«, wandte Ginster ein. Statt über die Arbeit zu sprechen, erkundigte sich der Stadtbaurat, ob Ginster etwas von Börsenpapieren verstehe. »Ich habe da einige Papierchen und dachte mir, daß Sie vielleicht über Bankbeziehungen verfügen …« Die Stimme zum Flüsterton gesenkt, als rollten Felsblöcke, mit Watte umwickelt, den Hang hinunter. Ginster fühlte sich etwas gehoben: auf den Gedanken, daß er allein mit Banken verkehren könne, war er noch niemals gekommen. Er kannte nur ein paar Prunkgebäude von außen. Man mußte so schlau sein, jeden Tag wurde etwas Neues verlangt. Mit einer Sicherheit, die ihn selbst überraschte, versprach er, sich um Tips zu bemühen, das Wort allein klang schon hochstaplerisch. »Nicht eilig …«, sagte der Stadtbaurat und entließ Ginster, dem unklar war, bei wem er die Tips einholen solle. Leider war seine Familie sehr unpraktisch veranlagt; lauter Kaufleute im kleinen und Wissenschaft. Spekulationen wurden nicht gewagt oder mißglückten. Kein Zug bei euch, hatte einmal ein entfernter Verwandter gesagt, der zu Besuch von Amerika gekommen war, wo er zog. Zur Beruhigung Ginsters verstrichen Wochen, ohne daß der Stadtbaurat die Papiere wieder erwähnte. Manchmal verreiste er für drei bis vier Tage nach dem nahen Holland, um Lebensmittel zu kaufen. Er war nämlich während der Kriegsjahre auch der Lebensmitteldiktator der Stadt. Wie Ginster sich ausklügelte, erledigte er vielleicht in Holland die Papiere gleich mit. Die mit der Nahrung verbundenen Pflichten schienen ihn gesundheitlich aufzureiben, denn hie und da lag er tagelang krank zu Bett. Seine Krankheit fiel immer mit einer Stadtverordnetenversammlung zusammen, in der er über die städtische Kartoffelversorgung Auskunft hätte erteilen müssen. Je beharrlicher er der Kartoffelknappheit wegen das Bett hütete, desto blühender sah er dann aus.
Außerhalb des Stadtbauamts war Ginster ein vereinzelter Zimmerherr wie seinerzeit als Student. Zuweilen, wenn er das Abendessen einkaufte, glaubte er sein Leben in M. genau dort neu aufzunehmen, wo er es einst stehen gelassen hatte. An die Jahre dazwischen dachte er kaum zurück, sie waren eine verschlafene Stunde. Er hatte das Gefühl, aus einem Loch zu kriechen, drang aber nicht ins Freie, sondern wurde vom Krieg aufgefangen, der bereits wieder an der Mündung stand. Seine Schauplätze befanden sich an sämtlichen Orten zugleich. Immerhin gelang es Ginster, sich von der eigenen Anwesenheit zu überzeugen. Sie ließ sich wenig schön an; so allein inmitten der Allgemeinheit. Die meisten Leute waren verschollen, weil sie notgedrungen in der Allgemeinheit aufgingen, die durch sie nicht voller wurde. In Q. hatten die Leute wahrscheinlich auch vor dem Aufgehen gefehlt. Ein bißchen mehr Krieg hätte der Stadt nichts geschadet,und mitunter sehnte sich Ginster einen feindlichen Flieger herbei, durch den sie vielleicht erregt worden wäre, denn er wollte nach der langen Pause endlich etwas für sich erleben. So viele Menschen schwärmten von ihren Erlebnissen, und die seinen waren bisher nur dürftig gewesen. Entweder war er in letzter Minute von einem gerade begonnenen Erlebnis getrennt worden, oder es hatte sich einfach nichts weiter ereignet. Die Fensterrose im Dominnern reichte als Ereignis nicht hin. Sie erfreute sich zwar großer Berühmtheit, aber ihr Funkeln war
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