Ginster (German Edition)
mit Notwendigkeit, daß sich die Stadt in der Nähe aufhalten mußte. Solange er dem Schienenstrang nachging, glaubte er ein feines Bimmeln zu hören. Hausreihen rechts und links, ein Hotel in Biedermeierschrift, das sogar eine Nachtglocke besaß. Der Eingangsraum war eine Traulichkeit in Holz mit anheimelnden Weinreklamen und zwei Bäumchen, ganz traut. Nur ein Zimmer im Dachgeschoß frei, die Treppchen schmalspurig.
»Warum die schrägen Wände …«, fragte Ginster. Todmüd.
»Das Haus ist voll.«
Es war doch tröstlich, daß noch andere Leute zureisten, wann kamen sie an. Den Hausknecht hatte Ginster schon beim Arzt in alten Witzblättern beobachtet; eine Strichzeichnung und darunter der Witz. Mehrere Vorhänge stopften das Zimmer aus. Die Soldaten fingen wieder zu summen an, aber nun lag Ginster im Sack. Bald würde der Mann in Hamburg sein. Er streifte.
Das Rathaus, das Ginster am nächsten Morgen aufsuchte, war nach dem Platz zu mit steinernen Rittern bedeckt. Ein ganzer Speicher von Ursoldaten, die kerzengrad zwischen den Fenstern wachten. Statt im Rathaus selbst befand sich das Stadtbauamt leider in einem Gebäude rechts gegenüber, das zwar auch am Platze lag, aber trotz seines Mittelalters längst keine so schöne Vergangenheit besaß. Ungeschützte Wände einfach verputzt. Ginster mußte im Büro des Stadtsekretärs Hermann warten, der gerade die Zeitung las und so beschäftigt zu sein schien, daß er sich nicht auf die geringste Unterhaltung einlassen konnte. Er war gescheitelt und trug einen Gehrock, der lang wie seine Dienstjahre war. Vielleicht gehörte der Gehrock der Stadt. Einmal wollte der Stadtsekretär etwas zu Ginster sagen, hielt dann aber an sich und arbeitete weiter. Man merkte ihm an, daß er fortwährend Äußerungen unterdrückte, die er sich für den richtigen Augenblick aufsparte; ein innerer Vizefeldwebel, der erst ganz zuletzt platzte. Es läutete: Stadtbaurat Schmidt. Schon auf der Fahrt hatte sich Ginster ausgedacht, daß er den Stadtbaurat womöglich nicht wie einen militärischen Vorgesetzten behandeln wolle, sondern höchstens leicht von unten herauf. War er auch städtisch, so doch nur privat. Im Arbeitszimmer empfing ihn ein Poltern, das aus einer rotblonden Wolke losbrach, die sich über dem Schreibtisch zusammengebraut hatte. Der Widerhall verhinderte ihn, die Tiefe des Raums zu ermessen. Die Wolke war der Stadtbaurat. »Ich bin hier angekommen«, sagte Ginster. Das Poltern dauerte fort. Er glaubte, im Hochgebirge von einem Gewitter überrascht worden zu sein, und zog sich in eine Schutzhütte zurück. Nach dem Gipfel zu verstärkte sich der Stadtbaurat stetig, während er talwärts im Dunkel verschwand. Ginster streckte den Kopf aus der Schutzhütte heraus und erkundigte sich nach seinen Pflichten. Da das Poltern nicht böse gemeint zu sein schien, begab er sich wieder ins Freie. Aus der Nähe betrachtet, war der Stadtbaurat eine fette Rübe, die halb in der Erde steckte.
»Geben Sie nichts auf das Geschwätz«, entlud er sich dröhnend, »die Kerle schwatzen so viel.«
Haufenweis kollerten Kerle durch die Luft, denen Ginster vorsichtig auswich. Draußen fiel ihm ein, daß der Stadtbaurat kaum die Arbeit erwähnt hatte. Herrn Valentins Brummen war eifriger gewesen, freilich hatte er auf eigene Rechnung gebrummt. Der ganze Rathausplatz war geschichtlich. In seiner Mitte erstand ein Denkmal, das Rasenbeete umgaben, und dahinter lagerte wiedereinmal ein Dom, der allerdings nicht so steil in die Höhe fuhr wie der zu K., sondern sich flach auf dem Boden dehnte, Platz und Zeit genug waren vorhanden. Im Lauf des Tages mußte Ginster ein Zimmer finden. Die Straßen krümmten sich sämtlich und eröffneten in einem fort fertige Durchblicke, von denen sie nichts ahnten – eine natürliche Städtebaukunst, die aus lauter Fachwerkhäusern bestand. Manche waren auf Ansichtskarten abgebildet; der spitzen Giebel wegen eigneten sie sich besonders gut für Hochformat. Als Ginster durch eines der niedrig angeordneten Fenster in eine Stube sehen wollte, schnellte sogleich der Laden herunter. An einer Stelle wurde zu seiner Freude das hölzerne Fachwerknetz, das den ganzen Himmel überquerte, von der Spiegelscheibe eines Cafés auseinandergeschoben, in dem er vielleicht ab und zu den Gefächern entrinnen konnte. Am liebsten hätte er in der Nähe des Bahnhofs gewohnt, um die Lokomotiven pfeifen zu hören, aber dort war nur freies Feld. Er mietete sich auf der entgegengesetzten Seite bei
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