Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
Vom Netzwerk:
unsichtbar; als sei sie von dem verschlossenen Zimmer geschluckt. Kein Laut dann im Flur, Anna schien mit ihr beseitigt. Ginster hätte tagelang allein im Büro geweilt, wäre nicht der Baulehrling Willi gewesen, den Herr Valentin seit kurzem aufgelesen hatte. Aber auch Willi war meist auf den Beinen mit Zetteln und Rollen, die er austrug oder empfing. Seine Gänge mußten mit dem Hinterzimmer zusammenhängen, das selbständig fortbestand. In der Abwesenheit des Lehrlings sah Ginster zum Fenster hinaus und beobachtete die Juden in den Kaftanen. Willi war ein bleicher Junge mit einem Gesicht, das wie Milch verlief, höchstens siebzehn Jahre, alles ganz hell, die Haare noch blasser. Sommersprossen schwammen obenauf, die Milch war nicht durchgesiebt. Auch die Augen schwammen, dösig kopierte er Pläne. Wenn er schlief, konnte er nicht untätiger sein als im Wachen. Er gehörte einem Jünglingsverein an. Blieb er an einem Vormittag im Büro, so zerfloß er allmählich, die Konturen lösten sich auf, wegwar er, in den Tapeten. Ginster versuchte ihn einzusammeln, um ihn vor der Verflüchtigung zu bewahren. Von sich aus sprach Willi nie. Sein Vorhandensein ermüdete Ginster; immer zu zweit und so stumm auf den Stühlen. Ziellos fragte er Willi aus und erzählte dann selber. Da er der Ältere war, hätte er Abstand wahren sollen, schon wegen der Würde, ein Akademiker, aber der Abstand gelang ihm nicht, so oft er ihn sich auch vornahm. Vor Jahren war er mit einem Privatdozentenehepaar namens Buchmann in Verkehr getreten, das gesellige Abende veranstaltete, Germanistik und Tee. Die Leute hatten ihn wie ihresgleichen behandelt. Auf die freundliche Behandlung hin hatte er ihnen aus den Ferien einen Brief geschrieben, der die Anrede: »Liebe Buchmanns« trug. Als Antwort war postwendend ein Kartenbrief eingetroffen, in dem sie sich seine Besuche für die Zukunft verbaten. Dabei war die vertrauliche Anrede allein durch ihre Freundlichkeit heraufbeschworen worden. Weder Herr Valentin noch seine Frau sagten zu Willi ein überflüssiges Wort, eine natürliche Rangordnung, mit der Ginster nur heimlich zu brechen wagte. Seine Beziehung zum Baulehrling hätte ihn in den Augen der beiden geschändet. Willi hatte noch nichts mit Mädchen erlebt und wurde verlegen, wenn Ginster ihn um Auskünfte anging. Einmal behauptete er, von einem reifen Mädchen in einer Kammer halb verführt worden zu sein. Er rutschte auf dem Stuhl und blickte zur Wand, die Milch war verschüttet. Ginster ließ sich nicht nur die halbe Verführung bis in jede Einzelheit ausmalen, sondern regte auch durch eigene Berichte die Phantasie des Jünglingsvereins an. Die Hosen Willis glänzten, um die Lippen nicht die Spur eines Barts. Bald fing er selbst von den Mädchen an, abwechselnd bleich und rosa mit geöffnetem Mund. Kamdann Frau Valentin durchs Büro, so beugten sie sich über die Tische, auf denen nicht immer die Arbeit lag, manchmal ein Buch vielmehr, in dem Ginster gerade las, um sich die Zeit zu vertreiben. Er schämte sich, daß er die Gespräche abbrach und das Buch wie ein Schüler zwischen den Plänen versteckte, aber immer tiefer verstrickte er sich in Unterhaltungen, die der Anstand verwehrte. Berta durfte sich ausmodelliert zeigen, und Herr Valentin brummte öffentlich. Mit ihnen an Sichtbarkeit zu wetteifern, wäre vielleicht nicht so schwer gewesen, Ginster jedoch verstand sich auf die kleine Sichtbarkeit nicht, die er haßte, wenn er sich genau prüfte, weil sie stets wieder Triumphe über ihn errang; lieber schon sank er in die Höhlen herab, die sich unter dem Gebäude des Anstands hinzogen. Sie waren feucht, und mitunter verirrte sich ein Schimmer in sie, während oben bei den Valentins alles am richtigen Fleck saß, wie ein Staketenzaun. Die verschwimmende Blässe Willis erweckte in Ginster die Lust, an ihm die Hypnose zu versuchen, Hay zum Trotz, der auch den Anstand sorgfältig wahrte. »Das tut man doch nicht«, pflegte er zu Ginster zu sagen. Willi wurde auf den Stuhl gesetzt, mußte eine entspannte Haltung einnehmen und immerfort den funkelnden Knauf eines Zirkels anstarren, den Ginster langsam senkte. »Sie werden müder und müder werden«, murmelte Ginster mit eintöniger Stimme, »Ihr Bewußtsein wird vergehen, und Sie hören nur noch auf mich. Die Augen fallen Ihnen zu. Sie können die Augen nicht mehr öffnen. Sie schlafen …« Willi schlief wirklich, niemals hätte es Ginster gedacht. Dämlich sah er drein, die Hände auf den

Weitere Kostenlose Bücher