Ginster (German Edition)
über das sechzehnte Jahrhundert auf die Gegenwart an; auch dieser Krieg ein Raubzug und Mache. Aber dann wieder wollte er dieErkenntnisse nicht für wahr haben und sprach vom Vaterland. Seine Jugend war in eine Zeit des allgemeinen Anstiegs gefallen, Möller hatte ihn zitiert, und im Großen Generalstab standen die einfachen Tintenfässer und Tische. Da saß er in der Hausjacke, die geflickt war, hinter sich die Jahrzehnte seines Lebens, langsam hochgeführt und mit Gewißheiten gefüllt, die er insgeheim nicht mehr für gewiß hielt, doch die Hand an sie zu legen, vermochte er nicht. Schon sank die Rückenlinie ein wie der verbrauchte Schwung einer Unterschrift. Das Werk war im Jahre 1645 angelangt, er mußte sich eilen.
Ginster stieg die Treppe zu Ottos Eltern hinan, er hatte sie früher oft begangen, ohne ihrer Muffigkeit zu achten, denn Otto erwartete ihn oben. Vor Trauerbesuchen fürchtete er sich. Den Trauernden haftete die Pest an, ihre Wohnungen unterschieden sich von gewöhnlichen Wohnungen, sie hockten flüsternd im Kreis. Wenn nur der Tote gestorben wäre, – aber die Hinterbliebenen waren von seinem Totsein angesteckt mit ihren Leichengesichtern, und, was schlimmer war, auch die Zimmereinrichtung lag in der Verwesung, an jedem Gegenstand klebten Anekdoten. Meist hingen die Vorhänge herunter, die Sonne durfte nicht eindringen; sie hätte Lärm gemacht und die Gegenstände ins Leben zurückgeholt. Das Sofa war grün bespannt, auf dem Ottos Mutter sich ausbreitete, unbeweglich, als wachse sie aus dem Stoff schwarz hervor. Hölzerne Schnecken rollten sich auf der Mitte der Lehne zusammen, und rechts von ihnen, in gleicher Höhe, saß der alte Mutterkopf, dem Leben nachgeahmt, wie ein Modell seiner selbst. Ginster wagte nicht zu atmen, die Requisiten in der Stube benahmen sich feindlich gegen ihn. Der Vater ging umher, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und setzte sich wieder. Die Trauer warnur im Sitzen möglich. Alle Stühle waren mit Kügelchen versehen, die Pendeluhr trug einen Giebel. Wie das Perpendikel hinter Glas, so nickte die Mutter und sprach in Zwischenräumen, als spräche sie gar nicht selbst. Von einem Brief Ottos erzählte sie, in dem er ihr mitgeteilt hatte, daß ihm das Eiserne Kreuz verliehen worden sei. Es habe ihn doch gefreut, das Eiserne Kreuz, obwohl er genau wußte, daß die Auszeichnung nichts bedeute. Sie sah Ginster an, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Er war Ihr Freund«, sagte sie. Der Mann wollte sich einmischen, aber sie wies ihn gereizt zurück. Dann stand sie auf, eine dunkle, unförmige Masse, die sich mühselig erhob, und ging, wieder klein geworden, in Ottos Zimmer voran. Nur Ginster sollte ihr folgen. Das Bett, der Bücherschrank, an der Wand einige Photographien – sie wies auf die Photographien, unter denen sich die Ginsters befand. »Suchen Sie sich ein Buch aus«, sagte sie zu Ginster, während ihre Blicke über die Titel glitten, von denen sie nichts verstand; aber sie kannte die Titel auswendig und verstand sie auf ihre Weise doch. Das Zimmer war schmal, schon als Kind hatte Otto in ihm geschlafen. Wider Willen stellte Ginster die Häßlichkeit des Zimmers fest. »Von wegen schief«, fiel ihm ein. Bei der Rückkehr zur Stube bat das Dienstmädchen auf dem Flur um eine Auskunft. Die Mutter ging eigentlich nicht, sie wallte wie ein aufgezogener Automat; vielleicht ein Rheumatismus, verborgen unter dem Kleid. Der Mann hatte eine schnarrende Stimme, Ginster begriff, daß die Mutter ihn anfuhr. Die Stimme, für die er nichts konnte, fegte zwischen sie und den Sohn. Sie ließ sich wieder auf dem Sofa nieder, es war, als hätte sie sich niemals erhoben. Die Pendeluhr schlug und irgendein Kuckucksruf ertönte, der zu den Kügelchen auf den Stühlen gehörte.
Auf dem Nachhauseweg stieß Ginster auf Hay, der in der Nähe wohnte.
»In welchem Militärverhältnis stehst du eigentlich?« fragte Hay.
»Ausgemustert im Frieden«, erwiderte Ginster. Von dem Bildhauer Rüster hatte er nie mehr etwas gehört.
»Ja, was ich sagen wollte«, – Hay mußte sich immer erst aus einem Brüten erwecken, ehe er etwas sagte – »was ich sagen wollte, also ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß die Ausgemusterten nachuntersucht werden sollen.«
Ginster starrte ihn an.
»Aus zuverlässiger Quelle«, wiederholte Hay und entfernte sich mit seiner nachgewiesenen Krankheit.
V
Von einer Nachmusterung der im Frieden für untauglich Erklärten begann in der
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