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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Schenkeln, wie ein Schaf angesichts der Tapeten. Frau Valentin war zum Glück mit Anna auf den Markt gegangen, alles außer Haus. Es schellte; Ginster kümmerte sich nicht darum. Erließ Willi schwierige Bewegungen ausführen, erregte sinnliche Gedanken in ihm, auf die Willi von selbst nicht gekommen wäre, und erteilte ihm schließlich einen Auftrag, dessen Vollzug er auf den folgenden Vormittag Punkt zehn Uhr festsetzte. Die sogenannte Posthypnose, wie Hay gesagt hatte, der durch das Sogenannt stets die Bedeutung des kommenden Ausdrucks zu steigern verstand. Da die Haustür aufgeschlossen wurde, brachte Ginster Willi wieder in seinen schläfrigen Wachzustand zurück. Am anderen Tag gegen zehn Uhr wurde Willi unruhig, rieb sich die Augen und sagte wie ein Automat: »Ich soll auch ausrichten, daß der Herr Oberbürgermeister angeläutet hat, er wolle Frau Valentin ein Hündchen schicken.« Ginster, der verstohlen nach der Uhr gesehen hatte, wunderte sich, daß es mit der Zeit so genau klappte. Zufällig befand sich Berta im Büro. Sie blickte durch Willi hindurch ins Leere und wollte gradlinig auf ihn zu, wurde indessen von einer Handbewegung Herrn Valentins zurückgebannt, der zu brummen begann und die Szene ins Hinterzimmer zu verlegen drohte. Willi war geronnen und ersichtlich bemüht, sich einen Auftritt ins Gedächtnis zu rufen, der immer wieder entschlüpfte, wenn er ihn erreicht zu haben glaubte. Größere Angst als er stand Ginster aus, der die Sache nur aus Langeweile angezettelt hatte und sich niemals hätte träumen lassen, daß er gar die sogenannte Posthypnose beherrschte. Er schüttelte den Kopf, als mißbillige auch er den Baulehrling, wies dann aber beschwichtigend Herrn Valentin auf die Möglichkeit von Entwicklungsstörungen hin und äußerte zu Berta, daß aus Mondsüchtigen in Verbindung mit Blässe häufig Sonderbares hervorbräche, zumal wenn es an dem richtigen weiblichen Einfluß fehle; wobei er nicht hinzuzufügen unterließ, daß es wirklich entzückende Hündchen gäbe. Schon brummte Herr Valentin leiser. Der Bauunternehmer wälzte sich herein, vorne auf dem Klotz baumelte eine goldene Kette mit Zähnen daran. Willi schwitzte, so sehr besann er sich auf das Entglittene. Die Angelegenheit geriet in Vergessenheit, nur Berta blieb noch hie und da sinnend vor Willi stehen, durchdrang ihn, kehrte um, kam wieder, ging weg.
    »Mein geliebter Freund!
    Wir liegen für einen Tag in einem Unterstand in Reserve, in dem eine erdrückende Hitze herrscht, weil er vollgepfropft mit Menschen ist. Draußen regnet es wie immer. Soeben kam die Parole, daß der Angriff nunmehr endgültig auf übermorgen festgesetzt sei, obwohl keine Aussicht auf eine Besserung des Wetters besteht. Es soll mit Tornister gehen, unter Zurücklassung alles Entbehrlichen.
    Ich nehme Abschied von Dir, mein geliebter teurer Freund. Denkst Du noch an eines unserer ersten Gespräche, in denen Du bei Gelegenheit einer von mir wiedergegebenen Theorie zur Ermittlung des Alters der Platonischen Dialoge erklärtest, es komme vielleicht nicht so sehr darauf an, daß die Theorie den Zweck erfülle, dem sie dienen solle, wesentlicher sei vielmehr, daß mit ihrer Hilfe ein Ziel erreicht werde, das sie gar nicht suchte? Heute glaube ich Dich zu verstehen. Ich fühle tief, wie lächerlich der Ernst war, mit dem ich Philologie betrieb, fühle die ganze Unangemessenheit der großen Straßen, die uns vorgezeichnet sind und die in diesen Krieg führten. Der Ort, zu dem sie nicht führen, er genau ist der Ort, an den wir gelangen müssen. Wie eine Decke lagen bisher die Worte auf mir: Beruf, Pflicht und alle die andern Worte, die mich einspannten und gefangenhielten, ohne mir das geringste Ausweichen zu gönnen. Wenn ichzurückkommen sollte, möchte ich ins Ausland reisen, ich bin noch nie im Ausland gewesen, Genua möchte ich sehen, von dem Du mir erzähltest, oder Marseille – meine Eltern besitzen einen alten Stich von Marseille –, Länder, über denen ein blauer Himmel ist, nicht immer das Grau wie bei uns, wo es in einem fort regnet und diese entsetzliche Ordnung herrscht, die den Himmel grau macht, selbst wenn er einmal wolkenlos steht. Ich lebte noch gern.
    Wenn ich zurückkomme – aber vielleicht müssen wir verzichten. Übermorgen ist die furchtbare Schlacht. Ist mir zu bleiben bestimmt, so bedenke, daß wahrscheinlich bis zum Ende ein Riß durch mein Leben hindurchgegangen wäre. Der Widerspruch zwischen Wollen und Können, Streben und

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