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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Gelingen, Sehnen und Wirklichkeit, die ganze Tragik halbbegabter Naturen hat mich immer schon aufgerieben. Die Lücke, die ich hinterlassen werde, muß sich schließen, ich segne ihn, den Kreis, dem ich angehören durfte. Lebe wohl. Und bewahre mein Gedächtnis, wenn Dir die Kunde von meinem Tode kommen sollte.
    Otto.«
    Drei Tage nach Ottos Brief traf die Nachricht ein, daß er auf dem Feld der Ehre gefallen sei.
    Ginster ging aus dem Haus, durch lauter Straßen, weit weg vom Büro. Er dachte an den Weiher, an den er nach seiner Rückkunft aus M. mit Otto gegangen war, Otto in die Zwangsjacke eingeschnürt damals, das Wasser unter dem Moos. Nur die Frösche quakten. Mein geliebter teurer Freund – wann hätte Otto je so zu ihm geredet, er, dem hinter seiner Brille jedes Wort zuviel gewesen war, das unmittelbar von seinen Gefühlen zeugte. Nun standen die Worte in dem Brief, es stand auch darin vonder Lücke, die sich schließen werde, und von dem zu bewahrenden Gedächtnis, große banale Dinge, nicht auszusprechen eigentlich, und Otto mit seiner genauen Schrift, der sogar in diesem Brief nicht den Konjunktiv vergessen hatte, sprach sie aus. Ein Zittern durchlief Ginster. Wenn solche Worte sich Ottos bemächtigt hatten, wie mußte es draußen gewesen sein, immer das Grüßen im Regen und die Erwartung der Schlacht. Die Worte bedrückten ihn mehr als der Tod. Den Tod konnte Ginster nicht fühlen, er war eine Tatsache. Otto war tot; fertig, eine Lücke, die sich schließen werde, hatte Otto selbst gesagt. Nicht eine Lücke eigentlich, sondern ein Abstrich. Etwas fiel fort, man zog sich zusammen, und Haut wuchs darüber. Ginster bemühte sich, über den Tod traurig zu sein, so riesengroß traurig, wie die Verknüpfung der Worte mit Otto gewesen. Es gelang ihm nicht, vielmehr schlich sich eine Freude bei ihm ein, die er hinauswerfen wollte, als so gemein empfand er die Freude, aber sie blieb und schwoll an. Die Freude, daß er, Ginster, nicht an der Stelle Ottos gestanden hatte, sondern noch lebte. Lange wollte er leben. Er erfuhr weiter mit sich, daß er Otto abstieß und verkleinerte. Vermutlich wäre Otto ein Philister geworden, es stimmte, was er in dem Brief von sich sagte, daß er eine halbbegabte Natur sei, oder richtiger: gewesen sei, denn er war tot. Ins Ausland fahren, dachte Ginster. Am Anfang eines neuen Jahres, fiel ihm ein, schreibt man aus Zerstreutheit noch die alte Jahreszahl hin, ich muß die Zahl ändern, Perfektum und nicht mehr Präsens. Nur ganz von ferne stieg in ihm die Erinnerung an das einstige Zusammensein mit Otto auf, an die Essiggürkchen in M., an Gespräche, sie waren süß gewesen, die Stunden, dieses Wort süß paßte zu dem geliebten teuren Freund und zu Lücke. Traurig aber war er nicht, immer nur froh, hierzu sein, wenn auch allein. Das heißt: froh wäre zuviel gesagt, denn die Angst, daß er selbst vielleicht noch in den Krieg müsse, erstickte sofort wieder die Freude. Der Krieg dauerte fort, es war nichts mit dem Ausland. Die schönen, kaleidoskopartig wechselnden Figuren, die er soeben erblickt hatte, schwanden hin, und nur der Regen fiel, hier wie draußen der Regen. Die Angst besaß Ginster, sie hatte mit der Freude Otto verdrängt, Otto war erledigt, aber der Krieg blieb und kam näher wie eine kleine Kugel, die lautlos anraste, immer größer wurde und einen schließlich in sich hineinriß. Solche Kugeln hatten in Kinderträumen Ginster verschlungen. Nach Hause zurückgekehrt, sah er die Mutter starr sitzen, sie rührte sich nicht, wie gelähmt. Die Tante redete ihr zu, die Strümpfe zu stopfen, die liegengeblieben waren, und sie stopfte die Strümpfe. Es wurde von Otto gesprochen, die Tante beschwor ihn herauf mit seinen eckigen Bewegungen, philologisch und treu. Rechteck, Quadrat, ein Strich, ging es Ginster durch den Kopf, der Krieg preßte ihn völlig zusammen. Er suchte den Onkel auf, der seit der Todesnachricht am Vormittag kaum das Studierzimmer verlassen hatte. Man konnte von hinten nicht sehen, was der Onkel am Schreibtisch tat. Ein Buch lag vor ihm, der Leim war eingetrocknet. »Ich habe nichts gearbeitet heute«, sagte der Onkel. Ginster vermied es, ihn anzusehen. Auch der Onkel sah ihn nicht an; das Buch lag verkehrt auf dem Tisch. Die alte Hausjacke des Onkels war fast zu weit. »Der Krieg wird noch mehr Opfer fordern«, sagte der Onkel. Vaterland brachte er nicht heraus, er sagte Krieg. Manchmal schien es in der letzten Zeit, als wende er seine Erkenntnisse

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