Ginster (German Edition)
ihm befaßte und zudem äußerlich an ein Protokoll erinnerte, wurde das Selbstbewußtsein Ginsters wieder etwas gehoben. Hell blieb der Professor zurück, eine Lichtung, aus der jede Einzelheit weggefegt war. Wenn die Sonne schien, mußte die Klinik vollends zergehen; höchstens das Strichnetz hatte Bestand.
Um in das nahe dem Valentinschen Büro gelegene Untersuchungslokal zu gelangen, war eine Wirtschaft zu durchqueren, in der schon am Vormittag Gäste saßen und tranken. Es roch aus den Holzplanken und Linkrustatapeten, der Wirt bekümmerte sich nur um das Bier. Das Behagen der Gäste wurde durch den Zug der Opfer erhöht. Ein Unteroffizier forderte den Militärpaß ab, den Ginster als Gewähr für seine dauernde Untauglichkeit sorglich gehütet hatte. Solange er den Talisman bei sich trug, konnte ihm nichts widerfahren. Die Entziehung des Passes geschah auf Grund eines handschriftlich geführten Buches, in dem Ginster chronologisch genau verzeichnet war. Bisher hatte er in Unkenntnis darüber gelebt, daß eine Macht, die stets im Hintergrund blieb, ihn mit Notizen begleitete; wie ein Dauerexperiment, dessen Fortgang beobachtet werden muß. Nun war es mit der früheren Unbefangenheit vorbei. Wenn etwas nicht stimmte, saß der Fehler in seinem Leben. Vermutlich wählte das Militär so stinkende Lokale in der Absicht, höhere Erwartungen schon im Keim zu ersticken. Nachdem er sichausgezogen hatte, schwankte Ginster, ob er das Attest anbehalten oder ebenfalls ablegen solle. So schlecht es ihn kleidete, entschied er sich doch für seine Mitnahme, der Sporen wegen, die vielleicht durch das Schriftstück klirrten. Manche Leute trugen komische Unterhosen, hinten rötlich gefärbt. Das Benehmen des Aufsichtspersonals, das in Uniformen hin- und herwandelte, war danach angetan, die Unterhosen noch mehr zu entrechten. Auch Ginster liebte das Zwischenstadium nicht; entweder im Rock oder nackt. Jeder suchte die andern von seiner minderen leiblichen Beschaffenheit zu überzeugen. Im eigentlichen Musterungsraum wurden zunächst statistische Körpermessungen vorgenommen. Breitete Ginster das Attest vor sich aus, so wirkte es zu schamhaft, hielt er es nach rückwärts, so bemerkte man es nicht. Wie ein Militärarzt aussah, wußte er von der Sanitätskolonne her. Während die anwesenden Männerblicke auf ihm ruhten, hätte er sich gern in ein schönes Mädchen verwandelt. »Beruf?« fragte ein Mann. – »Hochbauingenieur«, erwiderte Ginster. Da, wie ihm rechtzeitig einfiel, die Häuser zerschossen wurden, bedurfte es keiner Architekten mehr. Als Hochbauingenieur konnte er vielleicht in einem Büro verwandt werden, wenn er auch nichts von Brücken verstand. Statische Berechnungen waren ihm immer unklar gewesen; lauter fertige Formeln, in die Zahlen eingesetzt wurden. Er wunderte sich, daß man ihm den Ingenieur glaubte, weil er nicht so technisch aussah wie die Leute, die auf den Hochschulen lebten. Die Aufgabe, das Attest anzubringen, beschäftigte ihn unausgesetzt. Einige Versuche waren bereits erfolglos gewesen, der Arzt schien das Papier für einen gesunden Körperteil zu halten.
»Von Professor Oppeln«, sagte Ginster zuletzt ungefragt, »hier, ein Attest.« Ohne richtig entfaltet worden zu sein,wanderte der Bogen aus der Hand des Arztes auf den Tisch. Ginster war indessen mit der geglückten Übergabe des Attestes schon so zufrieden, daß ihm nichts mehr daran lag, ob es gelesen wurde oder nicht. Nur verdroß ihn die geringe Aufmerksamkeit, die eine höhere Stelle der anderen schenkte, kein Zusammenhalt, die Stellen bekämpften sich gegenseitig. »Garnisondienstverwendungsfähig«, ward ihm erklärt. Daß Professor Oppeln trotz des großen Honorars ungelesen abgelegt worden war, ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie er erfahren hatte, gab es Garnisonen nur im Innern des Landes. Jeden Tag konnte er eingezogen werden. Sein Paß war jetzt militärisch.
Inzwischen hatte Herr Valentin Aufträge erhalten, richtige Aufträge, keine Läden. Gerade war der von Ginster entworfene Laden fertig geworden, als die Aufträge kamen. Der Laden glich jedem anderen Laden: über das Galeriegeländer hingen Tücher, und Verkaufstische, auf denen Garnspulen rollten, verdeckten die berechnete Treppe. Ginster entriet durchaus des Zusammengehörigkeitsgefühls, wenn ihn sein Weg an dem Geschäft vorbeiführte. Herr Valentin brachte die Aufträge von seinen Gängen mit, die sich in der letzten Zeit besonders lang dehnten. Zuerst merkte Ginster gar
Weitere Kostenlose Bücher