Ginster (German Edition)
Tat gesprochen zu werden. Seit dem Kriegsausbruch war über ein Jahr verstrichen, und es gab noch viele Männer ohne Uniform. In der Sanitätskolonne wurde die Möglichkeit einer solchen Musterung immer wieder hin- und hergewendet. Die von der Maßregel betroffenen Leute behaupteten alle, nichts gegen das Militär zu haben, bezeichneten aber aus öffentlichen Gründen die Musterung als verfehlt. Landauer war zur Kavallerie eingerückt, wie ein Fettzäpfchen, heimlich. Andere verschwanden zur Infanterie. Die verbliebene Mannschaft bestand aus Resten – eine verlassene Festtafel, die Teller nicht leer gegessen. Längst war das Kegeln abgeschafft, kein Wohltätigkeitsbasar mehr beim Truppenempfang.
Hay hatte recht behalten, er triumphierte nicht einmal, so zuverlässig war seine Quelle gewesen. Der Untersuchungsbefehl kam an; nicht in den Kasten geworfen, sondern vom Briefträger persönlich ausgehändigt, damit es wichtiger wirkte. In acht Tagen mußte Ginster sich stellen. Er trat sofort aus der Sanitätskolonne aus, die zwecklos geworden war. Zu Hause aß er kaum, im Büro vermochte er nichts zu zeichnen. Ein Geländer für die Ladengalerie hätte noch aufgetragen werden sollen; die Einteilung der Stäbe mißglückte. Gelang es ihm, die Stäbe gleichmäßig anzuordnen, so gerieten die Abstände zu breit, das Publikum wäre durch das Geländer gefallen.Die Tante sprach vom allgemeinen Schicksal, die Mutter änderte ein Kleid um. An dem Untersuchungsbefehl etwas zu ändern, war ihr unmöglich. Auf einen Sonderfall wie den Ginsters ließ sich der Onkel nicht ein. Allgemeine Siege und Niederlagen gingen den privaten Trauergefühlen vor. Ginster benahm sich der Familie gegenüber wie ein Ding zum Herumreichen oder zum Schütteln. Abends im Bett dachte er nach, teilweise laut und zärtlich mit sich. Es war ihm bewußt, daß er Angst hatte; ein Feigling. Er wollte nicht von irgendeiner Bombe getroffen werden, die zufällig über ihm explodierte. Man mußte, darauf kam er immer wieder zurück, die Gründe erforschen, die zu dem Krieg geführt hatten, mitten durch die Lügen hindurch und quer durch die dummen Gefühle. Ginster haßte die Gefühle, den Patriotismus, das Glorreiche, die Fahnen; sie versperrten die Aussicht, und die Menschen fielen für nichts. Schrecken packte ihn an: wie ahnungslos war er aufgewachsen, eingewickelt, immer für sich. Otto freilich hatte den Gründen nicht nachgefragt, Otto war mutig, Otto war tot. Wahrscheinlich bemühte er selbst sich nur aus Feigheit jetzt um Erkenntnis; aber Erkenntnis mußte doch sein. Das Denken machte ihn müd, er zog die Bettdecke über den Kopf, um einzuschlafen, es gelang nicht, er bildete arithmetische Reihen und stellte sich Getreidefelder vor, die im Wind hin- und herschwankten, alles vergeblich, die Gedanken hörten nicht auf, sondern liefen in immer neuen Scharen gegen ihn an oder über ihn weg wie die Liliputaner über Gulliver. Je beschädigter sie waren, desto hartnäckiger stürmten sie vor. Stets dieselben Gedanken: seine Feigheit und sein Protest. In einem weiten Hohlraum befand er sich mit ihnen allein. Er fror, Schauer umfuhren ihn. Wenn Otto noch lebte – die andern waren Bekannte, die man höchstens einmal berührte, es lohnte sich kaum, in den Hohlraum zu ihm drangen sie nicht. Ginster verabscheute Bekannte, weil sie alle so sicher taten und Gespräche mit ihnen niemals zu Ergebnissen führten. Im Nordlicht seines Ateliers sah er Herrn Allinger stehen, dem eine Ehrenkompanie von Kohinoors folgte. Wenn die Altersgrenze heraufgesetzt wurde, kam auch Allinger an die Reihe. Nicht vorzustellen, daß die Unteroffiziere den Bildhauer Rüster kommandierten, er wippte einfach auf dem Rüssel seines Geschlechtsglieds davon. Keiner schrieb mehr von den Bekannten. Traf man sich später wieder einmal mit ihnen, so behaupteten sie, Ginster habe sich gar nicht verändert, und es sei ganz so wie früher. Aber früher war auch nichts gewesen. Wie lächerlich die Geschichte mit Mimi. Man durfte den Menschen nicht trauen, Ginster nahm sich vor, niemals seine wahre Ansicht zu äußern. Es schlug drei Uhr. Da war auch die Dame mit Mimi gewesen, die ihn durch das Lorgnon fixiert hatte, er entsann sich ihres rötlichen Haars. Langsam fiel er in ein tiefes Loch, fühlte sich gerade noch fallen. Nach dem Erwachen beschloß er, zäh und geduldig vorzugehen. Eine Ameise, die durch ein Löchelchen schlüpfte. Das ganze Heer war sein Feind.
Die von dem Herzspezialisten
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