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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Professor Oppeln geleitete Klinik bestand aus Steinfliesen, Luft, Licht und weißer Farbe. Raumgrenzen waren nirgends zu sehen, alles schattenlos und hygienisch. Auf der Treppe glaubte Ginster zu schweben, der dünne Desinfektionsgeruch trug ihn empor. Bis zur militärischen Untersuchung waren noch drei Tage Frist. Schmale Striche, die in ziemlicher Höhe wagrecht liefen, zeigten wie eine Küstenlinie das Vorhandensein von Wänden und Decken an. Ginster folgte ihnen an Türen vorbei, die ebenso unsichtbar warenwie die Wände. Ab und zu setzten die Striche aus, dann stand er im Leeren und mußte erst suchen, wo sie wieder begännen. Die hellen Schwesterntrachten unterschieden sich von den Flächen nur durch ihre Bewegung. Ein Gleiten der Hauben, ohne Geräusch. In einem Zimmer wurde Ginster gefragt, was er wolle. »Herzerregung«, erwiderte er, »eine ärztliche Prüfung.« Die Striche liefen auch im Zimmer entlang, sie schienen Drähten gleich das ganze Gebäude zu durchmessen, mit dem Lineal künstlerisch grade gezogen. Obwohl Ginster der Aufforderung zu urinieren nachkommen konnte, wunderte er sich doch, daß sie so selbstverständlich an ihn erging; als sei das Urinieren ein jederzeit zu verwirklichender chemischer Prozeß. Unbeteiligt bemächtigte sich die Schwester des Gläschens und ließ ihn allein. Wahrscheinlich wurden zunächst Experimente mit der Flüssigkeit in dem Gläschen angestellt, aus denen er selbst sich erst später ergab. Das Sprechzimmer, in das die Schwester ihn rief, sollte nach ihrer Angabe Professor Oppeln enthalten. Es war schwierig, ihn zu entdecken, weil sein weißer Mantel in dem großen Raum sich nicht regte. Er floß mit der Umwelt zusammen wie Wassertiere in den Aquarien. Ginster orientierte sich an den Strichen. Auf dem Schreibtisch fand er zum Glück das Gläschen wieder. »Ich muß mich in ein paar Tagen stellen«, erklärte er, »und hätte mich vorher gerne gesundheitlich untersuchen lassen. Vielleicht ein Attest …« Professor Oppeln wandte ihm das Gesicht zu, eine weiche, volle Masse, auf die nur ein paar Schnörkel flüchtig hingeworfen waren, wie von einem Freskokünstler, der die Skizze später auszuführen gedenkt. Die Anwesenheit der Schwester hing vermutlich mit dem Gläschen zusammen. Der Professor erhob sich, es klirrte, unter seinem weißen Mantel bemerkte Ginster Militärhosen und Sporen. AlleÄrzte schienen miteinander verbündet zu sein. Ginster, der den Oberkörper entblößte, fühlte sich im voraus gerichtet. Unter den dicken Fingern des Professors, der ihn behorchte, zitterte zwar sein Herz, aber der Professor trug Sporen. Verschiedene Zwischenbemerkungen Ginsters blieben unbeachtet, die Untersuchung hätte auch ohne ihn vonstatten gehen können. So maßen Kunstschneider Anzüge an. Dann setzte sich die Schwester an die Schreibmaschine, dem Professor gegenüber, auf dessen flüchtigen Blick zum Gläschen hin sie verneinend mit dem Kopf schüttelte – eine stumme Zwiesprache, deren Ergebnis Ginster entlastete, denn schließlich hatte er ja die Flüssigkeit verschuldet. Gerade wollte der Professor zu diktieren beginnen, als er ihn rasch unterbrach, um überhaupt etwas vorzubringen und vielleicht noch Einfluß auf den Gang des Attests zu erlangen. Ob sein Zustand gefährlich sei, das Herz eben doch. Die Schwester starrte in die Luft, der Professor erwiderte, daß Ginster des Herzens wegen unbesorgt sein möge. Seine Antwort klang nicht einmal höhnisch, sondern teilnahmslos wie ein auf die Wand gehefteter Spruch, rein beruflich, die Sporen. Während er das Attest mit Fachausdrücken zu Ende brachte, starrte Ginster beschäftigungslos zu den Strichen auf, die schnurstracks im Weißen umliefen. Er hegte den Verdacht, daß die Ausdrücke der wissenschaftlichen Herabsetzung seines Zustands dienten, und bezähmte mit Mühe das Verlangen, die Gesichtsmaske des Professors fertig zu modellieren.
    »Wieviel darf ich …«, fragte er, »das Honorar, bitte, wieviel?«
    »Zwanzig Mark.«
    Der Professor nahm den Schein sofort in die Hand, ohne sich auf die umständliche Übergabe einzulassen, die Ginster zu bewerkstelligen plante, da er nicht recht wußte, wie das Geld zum Empfänger gelangen solle. In Anbetracht der über sein Herz zur Schau getragenen Sorglosigkeit hielt er das Honorar für zu hoch. Die Schwester verachtete ihn. Still entfernte sie sich mit dem Gläschen, selber spröde wie Glas, nur klingen durfte sie nicht. Durch den Besitz des Attests, das sich nur mit

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