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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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in nichts verändert werden konnten. Immer stellten sie etwas vor und vertraten etwas. Im Gespräch mit ihnen war über manche Dinge Schweigen geboten, ihre Würde verlangte das, sie glichen Ländern mit Grenzen. Niemals gaben sie sich auf. Ginster fand sie beinahe unappetitlich; lauter schwere Körpermassen, die sich selbstsicher behaupteten und gegen eine Aufteilung sträubten. Er selbst wäre zum Unterschied von ihnen gerne gasförmig gewesen, jedenfalls vermochte er sich nicht auszudenken, daß er einmal zu solcher Undurchdringlichkeit gerann. Der Bücherschrank in seiner Stube, dem er vorhin das Lyrikbändchen entnommen hatte, war außen mit Spiegelflächen versehen, um die sich Zierate wanden. Ein von der Großmutter geerbtes Mahagonistück, das ursprünglich vielleicht als bessere Wäschekommode gedient hatte und so niedrig war, daß er nur bis zur Weste aufwärts gespiegelt wurde. Seine obere Körperhälfte mit dem Gesicht erschien in dem Waschtischspiegel. Die Spiegel ergänzten sich und zerfällten ihn schon rein äußerlich in zwei Teile. Außer den Büchern enthielt der Schrank noch Notizbücher, ältere Photographien und Briefe; die Ottos lagen in einer Zigarrenkiste für sich. Ginster mochte den Schrank nicht mehr öffnen, sondern schlenderte an ihm wie an einem Museum vorbei. Eigentlich war er froh, daß man ihn zwang, sich von den Sachen in den Gefächern zu lösen. Wenn die Völker Krieg führten, so rührte es daher, daß sie an ihren Besitztümern hingen. Sie waren wie Kinder, die einen Gegenstand greifen wollen oder das Fäustchen um ihn ballen. Hätte Ginster nicht zum Militär gemußt, so wäre er im Augenblick über das Kistchen glücklich gewesen, weil es nur die wenigen Habseligkeiten barg. Unter Umständen würde er sich mit dem Kistchen noch anfreunden, für seine Zweckbestimmung konnte es schließlich nichts. Er war sehr alt und hatte Sehnsucht.
    Kurz nach acht Uhr am nächsten Morgen bestieg Ginster mit dem Kistchen die Trambahn zum Bezirkskommando. Er war um neun Uhr dorthin bestellt. Da die Trambahn im schlimmsten Falle fünfundzwanzig Minuten benötigte, hätte er getrost ein wenig später fahren können. Flüchtig überlegte er sich sogar, ob nicht ein zu frühes Erscheinen ebenfalls gegen die militärische Pünktlichkeit verstieß. Aber es war doch richtiger, sich etwas Spielraum zu lassen, denn der Strom versagte neuerdings mitunter, und die Trambahnen hielten dann mitten auf der Strecke; wie Tierleichname, die Augen verglast. Ginster hatte sich des Kistchens wegen, das trotz seiner Kleinheit Platz fortnahm, auf die Plattform des Anhängewagens gestellt. Er trug seinen schlechtesten Anzug. Die Sachen müßten ja doch gleich zurückgeschickt werden, hatte die Mutter gemeint. Obwohl ihre Ansicht zutraf, war er in Versuchung gewesen, sich besser zu kleiden als sonst, weil er in seiner Vorstellung den Gang zum Bezirkskommando unwillkürlich mit dem Besuch einer Feierlichkeit gleichgesetzt hatte. Noch ehe er sein Ziel nannte, sagte der Schaffner bereits »Bezirkskommando« und fertigte den Fahrschein aus. Das Kistchen. Es rutschte bei jeder Erschütterung und stieß wider die Rückwand. Der Anhänger, der keine direkte Verbindung mit den Drähten unterhielt, schlenkerte immer stärker als der Hauptwagen und wurde darum auch in der Regel von dem minderwertigen Publikum aufgesucht. Die paar Leute, die ihn jetzt am Morgen benutzten, sprachen über Ginster hinweg, als ob er einezerbrechliche Ware sei, der man sich nicht einmal nähern durfte. Einer von ihnen hatte seinen Gemüsekorb neben das Kistchen gesetzt. So bieder ohne Umschweif mit Anstand. Die Trambahn war den Häusern entronnen und drang zwischen zwei Baumreihen ins offene Land. Hier im Freien begann sie zu schweben. Nichts mehr von ihrer Gebundenheit an die Gleise, sie war zu einem Eilglaszeug geworden, das sich ohne Dampfaufwand vergnügt die Welt erschloß, die durch alle Scheiben einbrach. Rechts strich die Mauer des städtischen Hauptfriedhofs vorbei, mit ihren Kranzbuden, die noch verriegelt waren, und dem hohen Krematorium dahinter, einem neuzeitlichen Kuppelbau, dessen Schornstein an eine Fabrik gemahnt hätte, wäre er nicht besonders religiös ausgebildet gewesen. Von einem der Alleebäume, unter denen die Trambahn wie ein Kanu dahinglitt, mußte sich ein Blatt gelöst haben, ein einzelnes Blättchen taumelte jedenfalls frei in der Luft neben dem Anhänger her. Unentschieden auf und ab schwankend, begleitete es Ginster

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