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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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zwei Brillen, die Mutter nur eine; zusammen fünf Stück. Von den anderen Brillen unterschieden sich die der Tante darin, daß sie sich immer von ihr entfernten und an Orte begaben, an denen sie niemand vermutet hätte: in die Küche, auf den Vorplatz, ja ins Klosett. Die Tante durchstöberte jeden Winkel der Wohnung, weil sie ohne Brille nicht die Zeitung zu lesen vermochte. Endlich hüpfte aus den Sofapolstern die Brille von selbst hervor; sie hatte eine Weile Versteck gespielt, nun war es genug. Solange die Tante die Zeitung las, war den übrigen Personen im Zimmer eine von der Lektüre unabhängigeBeschäftigung verwehrt. Denn die Tante teilte nicht nur selbsttätig den Inhalt der Zeitung mit, sondern begleitete ihn noch mit Urteilen und Erwägungen, die ihrem Drang zum Reden entflossen; wie ein Hündchen, das rein aus Freude an der Bewegung seine Herrschaft beim Spaziergang mehrfach umspringt. An diesem Abend war es ihr freilich nicht so sehr um eine kritische Berichterstattung als um das Eindringen in die tieferen Gemütsschichten zu tun, das zu Abschiedsstunden gehörte. Die Zeitung sollte ihr nur den Absprung ermöglichen, auch besprach sie gern zwei Dinge zu gleicher Zeit, zwischen denen sich hin- und herschweifen ließ. Der Onkel rauchte sein Pfeifchen, die Mutter, die gegen ihre Gewohnheit sich weder mit einer Handarbeit noch mit den Patiencen befaßte, wartete beschäftigungslos, ob etwas geschah. Selber sprechen mochte sie nicht. Als sie das bloße Sitzen nicht länger ertrug, fiel ihr ein, daß sie Ginster für morgen ein Eßpaket zurechtmachen könne. Es drückte ihre Gefühle am besten aus, und vielleicht bekam er wirklich den ganzen Tag nichts zu essen. Ginster lehnte das Eßpaket angestrengt kopfschüttelnd ab. Es war ihm jämmerlich zumute, so auf dem Präsentierteller, und seine Stimme taumelte, als säße sie oben auf einer Stange und werde ungeschickt balanciert. »Heldenhaft benimmst du dich nicht«, sagte die Tante gereizt. Sie war mißgestimmt, weil sie merkte, daß Ginster sich nicht mit ihr zusammen in die Gemütsschichten begeben wollte. Die Mutter rötete sich plötzlich. Ginster wußte, daß beide über sein Hungern unterrichtet waren, ohne daß sie es ihm gegenüber je zugestanden. Wahrscheinlich hätten sie wider seine Befreiung vom Militärdienst nichts einzuwenden gehabt, aber öffentlich gehungert durfte nicht werden, höchstens insgeheim, wenn sie nicht hinsahen, und sie sahen einfachnicht hin. Ihrem Bestreben, sich nichts wissen zu machen, stand die jetzt erfolgte Zurückweisung des Eßpakets im Weg, die das Verhalten Ginsters allzu deutlich enthüllte. Der Onkel spürte unklar, daß etwas nicht stimmte, und wurde ebenfalls gereizt; freilich nur im allgemeinen, denn er bekümmerte sich um die innern Angelegenheiten nicht mehr. Den Umschlag seiner Laune hatte die Tante gewollt. Wenn sie gereizt war, übertrug sie jedesmal ihren Zustand absichtlich auf den Onkel, damit die Gereiztheit nicht wirkungslos unterging. »Sei doch ein Mann«, sagte der Onkel zu Ginster. Der wußte nichts zu erwidern. Noch immer hielt der Onkel an der französischen Revolution. Da ihn die Geistesverfassung des Zeitalters, in dem er gerade verweilte, unbewußt stets etwas beeinflußte, urteilte er über die gegenwärtigen Verhältnisse kritischer als früher; vor kurzem hatte er sogar einmal gesprächsweise die Möglichkeit eines Umsturzes in Aussicht gestellt. Ginster befürchtete schon heute den Wandel, den die Meinungen des Onkels wieder durchmachen mußten, wenn das Werk bis in die ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts vorgerückt war. Der späten Stunde wegen sollte schlafen gegangen werden. Die Gereiztheit schmolz hin, alle waren über den Abschied gerührt. Während der Rührung kam Ginster in den Sinn, daß der Ausdruck weich wie Butter unverwendbar geworden sei, weil es keine Butter mehr gab. Gebraucht hatte er ihn übrigens nie. Im Schein der Tischlampe fühlte er die alten Gesichter um sich her, sah weg, ging in sein Zimmer hinüber. Ein Mann solle er sein, hatte der Onkel gesagt – der Onkel, der allerdings die Männlichkeit hauptsächlich deshalb von ihm forderte, weil sie ihn bei seiner Arbeit weniger störte. Trotz seiner achtundzwanzig Jahre verabscheute Ginster die Notwendigkeit, ein Mann werden zu müssen. Sämtliche Männer, die er kannte, hatten feste Ansichten und einen Beruf; viele überdies Frau und Kinder. Ihre Unnahbarkeit erinnerte an die von symmetrischen Grundrissen, die

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