Ginster (German Edition)
eine Weile. Er hätte es mit einem Schmetterlingsnetz verfolgen mögen, von der Plattform fort über die Felder. Einmal streifte es ihn so nahe, daß er die Hände nach ihm ausstreckte. Die Leute beobachteten ihn schon. Wenn er früher gesprungen war, hatte er manchmal seinen Luftweg durch ein Hochziehen der Beine künstlich zu verlängern gesucht. Das Blatt war davon. Zur Linken breitete sich die große Spielwiese, auf der zu jeder Tageszeit Schulklassen und Sportvereine sich übten. Jetzt stand sie leer. Vor vielen Jahren hatte er dort mit anderen Knaben öfters Bälle hin- und hergeschleudert, weil ihm gesagt worden war, daß die Bälle gesund für ihn seien. Er hatte sich sogar damals selbst eingeredet, daß er gerne schleuderte; freilich nur aus Gefälligkeit. »Die Spielwiese wird jetzt angebaut«,äußerte der Mann mit dem Gemüsekorb. Auch den angrenzenden Milchhof kannte Ginster aus den Kinderjahren von innen; eiserne Stühle und Hühner zwischen Gebüsch. Die folgende Haltestelle. Wo waren die Kühe in dem Milchhof gewesen. Bezirkskommando.
Noch mehr Burschen und Männer als sonst bei den Musterungen. Sie standen zerstreut auf der Straße, am Eingang. Viele kamen zu Fuß. Zu seinem Erstaunen bemerkte Ginster, daß die Kistchen in der Minderzahl waren; meistens Pappschachteln, umschnürt. Des Henkels wegen war das Kistchen doch vorzuziehen. Die Breite des Hofeingangs, dessen Pfosten sich rechts neben dem eigentlichen Gebäude erhoben, hätte für einen Viehtransport gereicht. Der Eingang zum Gebäude selbst, der genau in seiner Mittelachse saß, schien nur von den bereits fertigen Militärpersonen benutzt werden zu dürfen. Merkwürdig genug, erhöhten die Blumen, die trotz der späten Jahreszeit vor einigen Fenstern hingen, eher noch Ginsters Angst. Er folgte den Leuten, die sich jetzt allmählich durch den Hofeingang nach hinten begaben. Gleich war es neun. Die Rückseite des Bezirkskommandos sah der Vorderseite so sprechend ähnlich, daß er sich nicht von der Stelle bewegt zu haben wähnte; auch die Blumen saßen am selben Ort. Auf dem Hof geschah weiter nichts. Die eingeebnete Fläche erinnerte Ginster an seinen alten Schulhof, nur fehlten die Bäume, unter denen er damals in den Pausen auf- und abgewandelt war. Ungeachtet des Laubes hatte er sich freilich lieber in den Gängen und im Treppenhaus aufgehalten, wo er weniger Gefahr gelaufen war, mit den verschiedenen Altersstufen vermischt zu werden. An der eigenen hatte er schon genug gehabt. Die Bäume mochten unmilitärisch sein. Der Hof war von einer mannshohen Mauer umringt, die sich so beständigund ununterbrochen fortsetzte, als liefe sie stets geradeaus. Dennoch machte sie – ein Irrtum war ausgeschlossen – an mehreren Stellen scharfe Knicke. Hätte sie eine sanfte Krümmung beschrieben, so wäre der Eindruck, den sie hervorrief, immerhin begreiflich gewesen. Vermutlich hatte er seinen Grund darin, daß die unterschiedlich gerichteten Mauerteile sich nicht gegenseitig beschatteten – eine Seltsamkeit, für die das trübe Tageslicht nur eine ungenügende Erklärung bot, da ja auch ohne ausdrücklichen Sonnenschein die Schatten zu spüren sind. Während Ginster mit den Augen an der Mauer entlangwanderte, um aus der Ferne die Knicke zu suchen, fühlte er einen Blick auf sich ruhen. Er erwiderte ihn: der vor ihm stand, war kein gewöhnlicher Mann wie die anderen, ein besserer Herr vielmehr, der sich als Ahrend vorstellte und in Ginsters Parallelklasse gegangen zu sein behauptete. Wieder einmal ein Schulkamerad, Ginster wunderte sich, woher die Schulkameraden kamen. Ohne daß er es wollte, schienen sie von ihm auf rätselhafte Weise aus allen Gegenden herbeigelockt zu werden; obwohl er sich sagte, daß ihr Auftauchen beim Militär, das nach Jahrgängen verfuhr, nicht so ganz unnatürlich war.
»Nun, auch da«, sagte Ahrend und hauchte sein Pincenez an. Es war goldumrändert. Er hauchte auch beim Sprechen, ein wenig lispelnd im Flüsterton. Ein Hauch. Statt des Holzkistchens trug er ein Handköfferchen, als verreise er für zwei Tage; zum Vergnügen. Niemand sonst hatte ein Handköfferchen bei sich. Auf dem Leder wölbte sich unter blauem Himmel noch ein halbes Palasthotel. Der Schnitt des Überziehers. Sie erläuterten sich.
»Habe eine kleine Arzneimittelfabrik«, hauchte Ahrend, »Drogen und so Zeug. Bisher unabkömmlich gewesen, jetzt vorbei, wie Sie sehen. Der vermaledeite …«
»Ich habe einen Ehrenfriedhof entworfen. Preisgekrönt. Auch
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