Ginster (German Edition)
zerriß. Plötzlich mitten entzweigerissen, auch die Hiers blieben aus. Eine Leere, und in der Leere vereinsamt ein einzelner Name. Der Name kam Ginster fremd vor, erweckte aber doch in ihm eine Erinnerung; als sei er dem Namen früher schon öfters begegnet. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er erfaßte, daß es sein eigener war. Hilflos starrte er den Namen an, der den ganzen Hof einnahm und Forderungen stellte, die er, Ginster, unmöglich erfüllen konnte, denn eigentlich war er ja nichts und durfte daher auch kaum beanspruchen, mit solcher Macht in dem Hof allein benannt zu werden. Er schwankte lange, ob er statt zu antworten sich nicht lieber verleugnen solle. Zuletzt fiel ihm ein, daß er äußerlich zu dem Namen gehörte und sich unter Umständen strafbar machte, wenn er sich ihm entzog. Außerdem wurde jede Flucht durch die Mauern verhindert.Von allen Seiten eingeengt, antwortete er vorläufig mit einem Hier, das freilich dem Namen gegenüber nicht viel besagte, aber immerhin besser als gar keine Antwort war. Später einmal konnte er sich vielleicht genauer erklären. Wie nach einer Theatervorstellung war Ginster zumute, ringsum die Leute, das Band rollte weiter ab, die Hiers sprangen ein. Es mußte einem wunderbaren Glücksfall zu danken sein, daß der Aufenthalt, den er nach seinem Ermessen verursacht hatte, nicht bemerkt worden war. Erleichtert folgte er der Verlesung, die jetzt eine kleine Störung erlitt. Ein Hier blieb aus, das die Silben hätte durchstoßen sollen. Der Feldwebel oder Unteroffizier blickte auf und rief zum zweitenmal Ahrend. Da die Tabelle den Namen enthielt, war sein Nichtvorhandensein undenkbar. Zum drittenmal. Endlich traf fast unhörbar das verlangte Hier ein, wie von der Luft herbeigetragen, ein Hauch. Ginster besorgte, daß Ahrend sich überanstrengt hatte; auf so weite Entfernung hin. Fertig. Abtreten.
Alles zerstreute sich wieder über den Hof. Elf. Die Armbanduhr war doch praktisch. Ein unmittelbarer Zweck schien mit dem Namenaufruf nicht verbunden gewesen zu sein, aber möglicherweise trat seine Bedeutung erst nachträglich hervor. Nichts geschah. Ihrem Aussehen nach zählten die meisten Leute höchstens zwanzig Jahre, jedenfalls gewann Ginster den Eindruck, daß Ahrend und er Überreste aus vergangenen Altersklassen seien. Viele verschwanden nach dem Gebäude zu. Wahrscheinlich suchten sie die Aborte auf, um sich die Zeit zu vertreiben. Ihr Hauptziel war indessen, wie Ginster einem neben ihm geführten Gespräch entnahm, die im Haus befindliche Kantine. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, daß ein Bezirkskommando Einrichtungen zumEssen und Trinken enthielt. Den Leuten war allerdings der Zusammenhang mit Kantinen angeboren, oder vielmehr, die Kantinen entstanden überall, wo anhaltend an sie gedacht wurde, sodaß die Leute nur nach irgendeiner Richtung zu rennen brauchten, um sofort auf ein solches Lokal zu stoßen. Wäre aber Ginster selbst auf Nahrung erpicht gewesen, so hätte er sich doch nicht vom Hof wegbegeben, da die Namen immer wieder erprobt werden konnten. Aus der gleichen Überlegung heraus verzehrten wohl einige ihr Mitgebrachtes auf dem Hof.
»Die Leute, was«, sagte Ahrend. Ginster wußte nicht, wer von ihnen beiden sich zuerst dem anderen genähert hatte.
»Habe keinen Hunger«, sagte er, wie um sich zu entschuldigen. Er war beunruhigt, weil auch Ahrend nichts aß. Glacéhandschuhe trug er übrigens nicht gern, man fror in ihnen heftiger als ohne sie; wie in einem ungeheizten Zimmer. Besser schon war es auf der Straße, die Straße war schön. Ahrend versank im Schnitt seines Überziehers.
»Scheußliche Situation … Denke nicht lange dabeizubleiben.«
Sicher war der Grund seines Fastens einfach die Appetitlosigkeit, die ihn beim Anblick der vielen Männer befallen hatte. Sie entfernten sich wieder voneinander; das heißt, Ahrend verharrte abwesend an seinem Ort und überließ es Ginster, sich zu bewegen. Der Stimmenlärm hatte sich vermehrt. Die Leute waren empört, daß sie so lange warten mußten, und stießen laute Beschimpfungen aus. »Bereits zwölf«, sagte Ginster mit Hilfe seiner Armbanduhr. Er wunderte sich, daß die Leute beim Militär überhaupt etwas zu fordern wagten, wurde aber von ihrer Ungeduld angesteckt und vergewisserte sich jeden Augenblick überdie Minuten. Aus Trotz gegen ihre Beaufsichtigung dehnten sie sich erst recht. Von der Nutzlosigkeit eines Kampfes mit ihnen überzeugt, ließ sich Ginster nach einem oft von ihm
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