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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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eine Granatenfabrik. Schießt schon.«
    »Ja, erinnere mich, wollten Architektur studieren. Schlechte Zeiten, was.« Seine Stimme war zu vornehm, um sich zu erheben; versank im Fauteuil. Die Vollendung der Worte überließ er seinen Angestellten. Wie Ginster erst jetzt bemerkte, trug er gefütterte Glacéhandschuhe, sonst hätte er das Handköfferchen nicht selbst anpacken können. Es fehlte ein Diener. Voraussichtlich wäre seine Anrede auch Sie geblieben, wenn er nicht nur die Parallelklasse besucht, sondern die Schulbank mit Ginster geteilt hätte. Das Sie war Ginster im übrigen angenehm. Einige Uniformen mit Schleppsäbeln befanden sich auf dem Hof.
    »Ehlers und ich«, sagte er in dem Bedürfnis, von Ahrend anerkannt zu werden, »trafen neulich zusammen. Gewiß entsinnen Sie sich seiner noch. Offizier. Hatte sich gerade bei den Fliegern gemeldet, weil ihm die Infanterie zu langweilig war.«
    »Mein Bruder Oberleutnant beim Stab. Früher aktiv, steht vorm Hauptmann. Wenige Aktive noch vorhanden, was.«
    Bis zum Hauptmann konnte Ginster nicht mit. Er war unruhig, schon im Zuhören hatte er eine Veränderung um sich her gespürt. Sämtliche Leute eilten über den Hof zur Gebäudefront, in deren Nähe sich die Uniformen aufhielten. Eine Aufforderung war nicht ergangen. Ginster, der am liebsten gelaufen wäre, paßte sich nur ungern Ahrend an, dessen gemächlicher Schritt ihn zur Verzweiflung brachte. »Werden das Gepäck mitnehmen müssen«, meinte Ahrend. Zwei Reihen waren gebildet worden, in denen sie sich einen Platz suchten. Kein Vorderplatz mehr zu haben. Die Uniformen unterhielten sich, ohne auf dieLeute zu achten, die sich freilich in ziemlicher Entfernung aufgestellt hatten. Alle standen, nichts außer den Reihen. Zehn vorbei. Der plötzliche Ruck mit dem Arm, den Ginster bei jüngeren Männern häufig beobachtet hatte, erklärte sich daraus, daß die Armbanduhr meist unter dem Ärmel saß. Er selbst mußte auch einen Ruck machen. Vielleicht ließ sich eine Methode erfinden, nach der man sich des Zifferblattes in einem unauffälligen Übergang versichern konnte. Die Hoffläche, auf die Ginster zurückblickte, lag öd in den Mauern wie ein ausgepumptes Riesenbassin. Einer rief ihm ins Ohr, daß er sich umdrehen solle. An einem inzwischen vor die Front geschafften Tischchen erhob sich ein Feldwebel oder Unteroffizier, der das Namenverzeichnis der Anwesenden verlas. Wer aufgerufen wurde, hatte mit Hier zu antworten; zuerst immer der Name, dann Hier. Obwohl der Vorgang auch die gewöhnliche Fassungskraft nicht überstieg, war Ginster dennoch erregt. Da er die Reihenfolge nicht kannte, in der die Namen ertönten, mußte er jeden Augenblick gerüstet sein, das verlangte Echo zu geben. Nicht so, als ob ihm die Bestätigung seiner Gegenwart schwergefallen wäre, aber er befürchtete, sich mit ihr zu verspäten. Nur eine winzige Sekunde war der Antwort gegönnt, sie hatte bereits zur Stelle zu sein, ehe noch der Name dem Munde des Vorgesetzten völlig entfahren war. Man mußte den Namen erraten. Während Ginster in der Erwartung des entscheidenden Einschlags seine Sinne zusammenraffte, strichen die Namen an ihm vorbei, ein langes Band, das die Hiers ununterbrochen durchdrangen, ohne daß sie es zu zerstören vermochten. Eigentlich bestand es gar nicht aus ganzen Namen, sondern aus einzelnen Silben, wenigstens fing er in seiner Unruhe nur die Silben auf, die sich zu einem sinnlosen Muster aneinanderschlossen, dasallerdings bei richtiger Behandlung vielleicht wieder neue Namen ergeben hätte. Schus – ler – mag – heid – dolf – se – lupp –: ein Zug zusammengestückter Reste, der bunt im Freien ablief. Dazwischen wieder und wieder die Hiers, die fast noch abwechslungsreicher waren. Sie kamen von oben und unten, von links und rechts, lösten sich wie Stafettenläufer ab, kreuzten das Silbenmuster, das sich quer zu ihnen bewegte, und standen dann noch beisammen. Einige schienen bereits einen weiten Weg zurückgelegt zu haben, so außer Atem flogen sie an. Verband man sie in der Reihenfolge miteinander, in der sie auftauchten, so ergab sich eine graphische Fieberkurve, die in einem fort aus der äußersten Höhe in die Tiefe stürzte und gleich wieder empor zum Gipfel schnellte. Hier – Hier – Hier –: Ginster, der den Hiers unwillkürlich nachjagte, wurde über Treppenläufe durch Löcher geschleift, ließ aber trotz des Schwindelgefühls, das sich seiner bemächtigte, das Silbenband nicht außer acht. Es

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