Ginster (German Edition)
angewandten Kunstverfahren auf einem unsichtbaren Brett aus der Umgebung heraus in eine Höhle gleiten, in der er nichts mehr für sich erhoffte. Wenn er einmal unten lag, war ihm alles gleichgültig, was mit ihm geschah. Kam es schlimm, so blieb ihm die Enttäuschung erspart, da er sich ja durch seinen Höhlenaufenthalt Erwartungen von vornherein vom Hals geschafft hatte; trat aber unversehens ein günstiges Ereignis ein, so war ihm immer noch freigestellt, ob er wieder an die Oberfläche klettern sollte.
»In die Halle!«
Die Leute liefen. Ginster hatte vorher die Halle nicht für eine Halle gehalten, sondern als eine Einbuchtung aufgefaßt, die aus Freude an den Knicken mit überflüssigen Mauerteilen hergestellt worden war. So hatte ihm auch seinerzeit zu Hause das Mädchen immer aus dem übriggebliebenen Kuchenteig ein eigenes Brezelchen geknetet. Wieder wurden zwei Reihen gebildet, Ginster ordnete sich schon von selbst ein. Der Raum glich einer Turnhalle ohne Geräte und paßte insofern zum baumlosen Hof. Das Tischchen, die Uniformen; dreiviertel eins. Aus dem nochmaligen Vorgang der Namenverlesung folgerte Ginster, daß beim Militär die Leute mehrfach hier sein mußten. Ein höherer Vorgesetzter wohnte den Namen bei. »Jedes Bezirkskommando wird von einem Oberst verwaltet«, hatte Hay seinerzeit erklärt. Der Oberst war ein alter Mann. Ginster, der ihn nicht genau zu betrachten wagte, wurde durch ihn an einen – übrigens längst verstorbenen – Großvater mütterlicherseits erinnert, der ungefähr im gleichen Alter gestanden haben mochte, aberviel gebrechlicher gewesen war. Hätte man den Oberst aus der Uniform herausgenommen, so wäre er vielleicht auch zerfallen. Es befremdete Ginster, daß noch niemand auf den Gedanken gekommen war, Greise zum Zweck ihrer Verjüngung in Uniformen zu stecken. Nach den Hiers durfte sich die Mannschaft nicht wie gewöhnlich zerstreuen, sondern mußte die Reihen erhalten. Ein neuer Auftritt begann, den die Leute mit doppelter Spannung erwarteten, da sie Darsteller und zugleich Publikum waren. Der Feldwebel oder Unteroffizier löste die bisherige Anordnung auf und stellte die Versammelten je nach ihrem Bestimmungsort zu verschiedenen Gruppen zusammen. Mit Ahrend geriet auch Ginster, den die Trennung von seinen früheren Reihennachbarn etwas schmerzte, in den Haufen der nach K. überwiesenen Fußartilleristen. Jede Gruppe hatte sich wieder reihenmäßig zu gliedern. Obwohl alle jetzt an den Plätzen standen, an die sie laut ihrem Gestellungsbefehl gehörten, schienen die Vorgesetzten von der Einteilung nicht befriedigt. Sie blickten auf die Gruppen, machten voreinander Front und gaben sich gegenseitig Befehle. Wie die Leute sich zuflüsterten, war die Infanterie-Gruppe zu klein ausgefallen. Rein ihrer räumlichen Ausdehnung nach verstießen in der Tat die Trupps gegen das Symmetriegefühl. Um dem Mangel abzuhelfen, wurde unter den Fußartilleristen eine Sondermusterung abgehalten. Ginster fürchtete von Namen zu Namen, daß auch der seine wieder erschalle, blieb aber gleich Ahrend zum Glück unbeachtet. Die Aufgerufenen mußten mit ihren Päckchen zur Infanterie umziehen, deren Gruppe sich sofort stattlicher ausnahm. In den Augen Ginsters waren sie Verdammte, die durch obere Fügung plötzlich aus dem Paradies vertrieben wurden, in das sie auf Grund des Gestellungsbefehls eigentlich hätten eingehen sollen. Er selbst gab sich der angenehmen Vorstellung hin, bei den Auserwählten zu sein, die mit schweren Geschützen schießen durften, und vergegenwärtigte sich den berühmten Dom zu K., den ihm der Onkel im Frieden einmal erklärt hatte. Der Onkel verstand viel von Kunstgeschichte. Wenn auch Kunstwerke in seiner Arbeit nicht vorkamen, fielen sie doch dank ihrer Entstehungszeit in die Geschichte im allgemeinen, für die er sich als Geschichtsforscher interessierte. Während seiner Mußestunden hatte er sich die Merkmale eingeprägt, die sie in den Handbüchern besaßen; überdies vermochte er stets die Jahreszahlen zu nennen, denen die Merkmale zugerechnet werden mußten. Anläßlich eines Schloßbesuchs war Ginster einmal Zeuge gewesen, wie der Onkel zur inneren Genugtuung des Kastellans aus der freilich besonders kunstgeschichtlichen Krümmung eines Stuhlbeins das Alter der gesamten Schloßeinrichtung ermittelt hatte. Das schöne oder häßliche Aussehen der Kunstgegenstände galt ihm, begreiflich genug, nur wenig im Vergleich mit ihrer Fähigkeit, sich in die historische
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