Ginster (German Edition)
Als kleiner Junge schon hatte sich Ginster gerne im Bahnhof aufgehalten, er entsann sich jetzt eben einer besonderen Gelegenheit, bei der es ihn dorthin gezogen, damals, als seine Leidenschaft noch das Stricken gewesen war. Offenbar hatte es ihm Spaß gemacht, mit den langen, glänzenden Nadeln regelmäßige Gewebe zu erzeugen, die von denselben Nadeln durchstochen werden konnten und sofort in einzelne Fäden zerfielen, wenn sie nicht verwahrt worden waren. Was man ihm zu Hause in jener Strickperiode einmal angetan hatte, wußte er im Augenblick nicht mehr, aber es mußte eine außergewöhnliche Beleidigung gewesen sein, denn er war, ohne Bescheid zu hinterlassen, aus der Wohnung geschlüpft und mit Wolle und Nadeln zum Bahnhof gegangen. An einem Sonntag, nach Tisch. Auf einer Bank im großen Querbahnsteig hatte er dann zwischen Reisenden, Koffern und Feiertagsleuten bis in die Dämmerung hinein gestrickt. Nach und nach, auch das wußte er noch, waren Kummer und Trotz gewichen, und in dem Gefühl der Seligkeit, so verloren in einem Gewimmel zu sein, das unaufhörlich neu entstand und sich selbst verschlang, hatte er über die gewölbten Glasdächer herrliche Glanznetze gestreut, die sich mit dem Rauch der Lokomotiven vermischten, der im Dunkel verschwand. Zuletzt war die ganze Glashalle ein Gefunkel geworden und aus den Menschen eine Hellewie aus bunten Papierhüllen gedrungen, in denen Stearinkerzen brennen. Vom Licht berauscht, hatte er selbst am heißesten geglüht, das kleine Wolläppchen in der Hand, das vergessen zwischen den Nadeln hing. – Der Zug war eingefahren, keine Viehwagen, sondern richtige Holzbänke, auf denen man abgezählt sitzen durfte. Ahrend schien in ein anderes Abteil geraten zu sein. Die Aufsicht in dem Wagen hatte eine Art von Unteroffizier mit Schnüren, Orden, Säbel und Sporen. Schwer und fest saß er auf seinem Platz; von der Uneinnehmbarkeit eines Kastells, um das Wassergräben gezogen sind. Später, als die Leute ihn um Auskünfte angingen, wurde die Zugbrücke heruntergelassen. Er fühlte sich geschmeichelt, weil die Leute nichts wußten. Sie fragten ihn, wo sie hinkämen, nach den Geschützen, den Vorgesetzten, den Gäulen. Der Unteroffizier bemühte sich, ihre Unruhe durch Hinweise zu vergrößern, die zwar in keine bestimmte Richtung deuteten, aber zahlreiche Möglichkeiten eröffneten, mit denen nun auch noch zu rechnen war. Vermutlich wußte er selbst nichts. Ginster hätte sich am liebsten beide Ohren verstopft, die Gespräche zerrten ihn nur aus der Gleichgültigkeit heraus, die er sich im Bezirkskommando zugelegt hatte. Auch beneidete er die Leute ihrer militärischen Kenntnisse wegen. Wie vor einem Examen, wenn jeder etwas Besonderes gelernt hat, das an die Reihe kommen könnte. Der Zug stand ohne Grund. Eine Fabrik draußen; sie wurden selbst fabriziert. Essen, dösen. Ankunft in K. nach fünf. Sie mußten über eine endlose Brücke, die breit wie eine Hauptstraße war. Die Brücke stieg an, als führe sie einen Berg hinauf, eine sanfte, allmähliche Steigung, die heimtückisch das Gehen erschwerte. Senkrechte Bergpfade, die ihr Ziel plötzlich nahmen, fand Ginster weniger ermüdend. Das Bohren der Tante.Es zog, die Geräusche verhallten, von Zeit zu Zeit klingelten die Elektrischen. Der Fluß unten lief in der Ferne mit einer Landschaft zusammen, die wahrscheinlich auch tagsüber im Abendfrieden lag. Die zwei Flöße hatten gerade noch gefehlt: malerisch im Krieg. Später senkte sich die Brücke wieder, und ein Trupp Kriegsgefangener kam vorbei. Alle Leute sahen ihnen nach, wie sie so sorglos und aufgelöst gegen den Himmel schritten. Die engen Straßen quollen von Soldaten über. In einem Garten wurde vor einem hohen Gebäude haltgemacht. Sie betraten das Haus, stapften auf einer geräumigen Freitreppe nach oben. Die Freitreppe hatte ein Schmuckgeländer, ermangelte aber der Läufer. Es war ihr anzumerken, daß sie von vielen Menschen begangen wurde. Obwohl sie sich in ihrer zweiten Hälfte gabelte, teilten sich die Leute doch nicht mit ihr, sondern beschränkten sich auf den rechten Lauf. Der Saal, in den sie mündete, bestand bis zur Decke aus Fenstern und übereinandergeschichteten Betten. Das Kistchen durfte abgestellt werden.
»Hier bleiben wir«, sagte ein Mann.
»Ja aber, die Kaserne …«, erkundigte sich Ginster.
»Das ist unser Quartier«, erwiderte der Mann, »jetzt gibt’s auch zu essen.«
»Ist denn das die Kaserne?«
»Nein, unser Quartier.«
»Wo ist
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