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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Mißverhältnis der Beckenzahl zu ihrer eigenen Summe Eile gebot. Sie dachten nicht nach. Die Unmöglichkeit, sich richtig zu reinigen, nahm er gar nicht so ungern hin. In der Menge wäre die Sauberkeit doch untergegangen, und überhaupt mochte er Gesichter nicht leiden, die ihr waschechtes Rosa prahlerisch ausschrien. Sämtliche Reste abgerieben, die Haare feucht, erst eben geboren. Alle fünf Aborte waren besetzt. Nach endlosem Warten vergewisserte sich Ginster darüber, daß sie noch Spuren jener in Saalbauten häufig beliebten Pracht zeigten, die dem Publikum vorschmeicheln soll, daß es hochherrschaftlich ist. Wo Bier getrunken wird, dürfen Mahagonisitze nicht fehlen. Als er wieder zum Vorschein kam, war der Toilettenraum von einem Reisenecessaire erfüllt, das zu Ahrend gehörte, der sich gerade wusch. Ein leichter Dunst lag um ihn, sein entblößter Oberkörper war gebleicht und runder als im Überzieherschnitt, sehr delikat, ohne Ränder. Die Augen schienen am Pincenez befestigt zu sein, das beim Necessaire steckte.
    Am frühen Vormittag noch: zweireihig die Hiers; vierreihig aus der Stadt hinaus auf einem Feldweg zur Kaserne; wieder zweireihig über abgehackte Treppenstufen in eine Art von Korridor, der in eine einreihige Zellenflucht hätte unterteilt werden können, so lang strich er geradeaus. Wie ein Atemzug, der nicht aufhören wollte. Das Atmen fiel schwer, denn die Luft war von den Uniformstücken gesättigt, die in Reihen übereinander sich auf den seitlichen Regalen mit dem Korridor entfernten, immer kleiner wurden und am hinteren Ende perspektivisch zusammenliefen. Die Leute sollten sich ausziehen, um eingekleidet zu werden. Der Ausdruck Einkleiden rief ein Angstgefühl in Ginster hervor, weil er ihn nur in Verbindung mit Nonnen kannte, die der Welt entsagten. Warum wurde der Vorgesetzte, der die Kleider befehligte, Kammerunteroffizier genannt. Hastig stürzten sich die Leute auf die Hosen und Jacken, als könnten ihnen die Sachen noch in letzter Minute entrissen werden. Sie waren stolz darauf, daß sie jetzt alle gleich aussahen, und zeigten sich gegenseitig. Wahrscheinlich löschten die Uniformen gar keine Unterschiede aus, sondern hoben die ursprünglich vorhandene Ähnlichkeit der Mannschaftsgesichter erst richtig hervor. Ginster nahm, was der Kammerunteroffizier ihm zuschob, längst waren die besseren Kleider vergeben. Es lag ihm nichts daran, ob die Uniform saß. Kein Spiegel. »Gib doch die Sachen wieder zurück«, sagte ihm einer. Alles zu weit, in den Hosen hätten sich noch mehr Beine abstellen lassen. Der Kammerunteroffizier fuhr ihn an. Eine Menge Fünfer aufs Tuch genäht und Kügelchen wegen der Kanonen. Das fünfte Regiment, Ersatzbataillon, Berner Hof. Die Kopfbedeckung, Krätzchen genannt, glich einem Blumentopf. Er pflanzte sich ein und strich die Haare zurück, damit sie nicht wie Gräser hervorwuchsen. Es zupfte und riß an ihm, die Halsbindekitzelte, der Rock stach ab. »Werde eigene Sachen anschaffen müssen«, meinte Ahrend, der notgedrungen das Kostüm angelegt hatte, das er als Verkleidung empfand. Der Bruder würde schon helfen. Die jungen Leute lachten. Zweireihig, vierreihig. Auf dem großen Hof exerzierten die Truppen und Kasernengiebel in Reihen. Ginster war jetzt Soldat bei den Fünfern.

VIII
    Der Mann mit dem Knopf am Uniformkragen hieß Knötchen. Er war Gefreiter und stand unmittelbar über Ginster, der zu seiner Korporalschaft gehörte. Herr Gefreiter. Mehrere Korporalschaften bildeten zusammen einen Zug. Die Vorgesetzten waren lauter Herren, aber nicht geehrte wie in Briefen, sondern wirkliche, die einen Inhalt hatten, der aus ihrer Ranghöhe folgte. Knötchen trug eine Brille. Statt daß sie ihn bedeutender machte, sank sie durch ihn zu einem ungebildeten Nutzglas herab. Beide schienen durch den Staub gezogen worden zu sein, so grau sahen sie aus. Wenn die Vorgesetzten einen Kanonier mit Sie anredeten, meinten sie Es; was daraus hervorging, daß der Kanonier seinerseits ihnen gegenüber nicht zum Sie greifen durfte, sich vielmehr einer unpersönlichen Wendung bedienen mußte. Untereinander mochten sich die Kanoniere als Sies empfinden; das heißt, sie duzten sich, aber das Du war ein Sie. Dem richtigen Du näherte sich in gewissen Fällen am ehesten die Bezeichnung Sie an, die sich im Verkehr zwischen Ginster und Ahrend aufgedrängt hatte. Freilich konnte ihre Beziehung nur unter den gegenwärtigen Verhältnissen als intim aufgefaßt werden. Die ganze

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