Ginster (German Edition)
Aborte zweireihig übten. Da nur öffentlich geübt werden durfte, ermangelten sie der Türen. Die Verrichtungen mußten überwacht werden, sonst wären sie unmilitärisch ausgeführt worden. Auch nach außen hin hatte die Latrine einen Zweck; sie diente als Zielpunkt beim Wenden und Laufen. Ohne sie hätten die Unteroffiziere einen Kompaß benötigt. Zur Latrine, marsch, marsch – wenn Knötchen den Ruf ausstieß, rannte die Mannschaft besinnungslos auf das Bauwerk zu. Ginster zitterte im Gedanken, daß der Gefreite einmal vergessen könnte, sie rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Ertönte kein neuer Befehl, so mußten die Leute mitten durch die Aborte hindurch. An sich wäre Ginster gern immer weiter geradeaus gelaufen, aber der Gemeinschaftsgeist, den die Befehle in ihm erweckten, war zu stark, als daß er sich allein fortgewagt hätte. Manchmal trafen trotz der Unermeßlichkeit des Platzes mehrere Korporalschaften vor der Latrine zusammen. Dann wurden sie von den Vorgesetzten getrennt, die ihre Gruppen aus der Ferne beliebig hin- und herschwenkten, wie Papierwische an einer Schnur. Warum die Vorgesetzten so schrien, sah Ginster nicht ein; gehorcht wurde doch. Das Geschreiwar der Rangstufe umgekehrt proportional und steigerte sich während der Anwesenheit höherer Chargen. Mit seiner an- und abschwellenden Gewalt verhielt es sich wie in der biblischen Erzählung, nach der Gott im Säuseln kommt. Vermutlich war ein General überhaupt nicht mehr zu hören, kommandierte aber in seiner Gegenwart ein Gefreiter, so tobte der lauter als im gewöhnlichen Leben. Einen General hatte Ginster mit Bewußtsein noch nicht erblickt. Am meisten strengten ihn Schwenkungen in den langen Reihen des Zuges an. Gleichviel, nach welcher Seite die Reihe sich drehte, er befand sich stets an ihrem äußeren Ende und mußte nicht nur den Kreisbogen durchmessen, sondern auch den Radius erhalten. Wenn es dem Unteroffizier paßte, hatten sich die Figuren platt auf den Erdboden zu legen. Dadurch, daß sie in den Staub umklappten, wurde die Reinigung der Uniformen erschwert, die sauber sein sollten, bevor sie sich niederwarfen. In einem fort auf und ab, als sei man ein Spielzeug, das die Mutter aufhebt, damit es der Säugling wieder aus dem Wagen schmeißt. Unmittelbar nach der Herstellung des senkrechten Zustands fing oft genug das Marschieren an. Es galt, die Beine so aus dem Körper zu schleudern, daß sie über den ganzen Kasernenhof flogen. Das wäre nicht einmal schlimm gewesen, im Gegenteil, Ginster freute sich, wenn nicht sich selbst, so doch ein paar Gliedmaßen entlassen zu können – aber die kaum aufgeflogenen Beine wurden sofort zurück zur Erde gezwungen. Noch spürte er, wie sie sich von ihm trennten, und schon stürzten sie wieder herab. Die Enttäuschung war doppelt schmerzlich, weil sie bis zuletzt den Anschein erweckten, als ob sie den Boden gar nicht berühren wollten. Am Ende jeder Marschübung glaubte Ginster in zwei Hälften gerissen zu sein, den Kopf auf demFestland, die Beine am Himmel. Erst allmählich sammelte er sich und bebte im Hof. Ein Augenzeuge hatte ihm vor Jahren versichert, daß Marschschritte, von vielen Beinen regelmäßig vollbracht, einen schönen Anblick gewährten, und insofern mochten sie immerhin zu Kriegen gehören. Sich vom Fleck zu bewegen, gelang aber jedenfalls ohne die Beine besser. Freilich stellten sich auch bei der üblichen Gangart Hindernisse in den Weg, ja, Ginster brauchte keineswegs zu gehen, wenn er nur ruhig dastand, stieß er auf sie. In den Stuben, im Flur und auf den Straßen erhoben sich Vorgesetzte, die von der Undurchdringlichkeit einer Märchenhecke waren. Damit die Hecke wich, hatte er ihr besondere Zeichen zu machen. Er erstarrte etwa plötzlich zu einer Mauer, die ganze Vegetation abgestorben, seine Augen zwei Löcher. Auch Professor Caspari hatte die Augen nicht eigentlich zum Sehen benutzt, sondern nur die Wesen angeschaut, die es vielleicht gar nicht gab. Ginster dagegen mußte die Augen auf den Unteroffizier richten, ohne ihn und sein Wesen strenggenommen anzusehen oder sich bei dem Anblick etwas zu denken; so daß die Augen zu Öffnungen wurden, in die der Unteroffizier beliebige Befehle hineinschütten konnte. Wie die Urnenfächer im Friedhof; für jede Asche verwendbar. In anderen Fällen waren die Arme und der Kopf zu benutzen. Ihr Gebrauch hing wiederum von wechselnden Umständen ab, deren mangelnde Berücksichtigung unweigerlich ein Gewitter herbeigezogen hätte,
Weitere Kostenlose Bücher