Ginster (German Edition)
Er hatte die Hände auf dem Rücken und blieb manchmal stehen. Die Frau stand dann ungezwungen neben ihm, als habe er Rührt euch kommandiert. »Leuthold soll er heißen«, sagte Ginster, »bitte, seht nicht so auffällig hin.« Glockenschläge; wahrscheinlich vom Dom, im Abend klangen sie immer lauter. »Halb sieben schon«, stellte die Tante verwundert fest, »nicht möglich, wir müssen zum Zug. Der Onkel …« Nach der Armbanduhr war es erst sechs. Ginster verklagte sie bei der Mutter, wurde aber selbst für schuldig erklärt. Bessere Uhren unnötig, er verlöre sie doch. Im dunklen Schlafsaal oben war inzwischen alles durcheinander geraten: ein Bettspeicher, die Stühle verschoben, große Bierflaschen auf dem Tisch. Dem Raum entfremdet, stolperte Ginster über einen Gegenstand, den er um Verzeihung bat. Noch glaubte er die Glockenschläge zu spüren; sie ersetzten die Umrisse, die sich in der Dämmerung verloren. Nur ja keine Unterbrechung. Als die Mäntel von seinem Bett aufgehoben wurden, blieb es kahl wie eine Insel zurück, von der sich gerettete Schiffbrüchige entfernen, und ohne Anteil schob er es wieder zurecht.
»Habt ihr vorhin den Berner Hof gefunden?« fragte er die Tante, »man verwechselt ihn leicht.«
»Aber ich verstehe dich nicht, er liegt doch wirklich sehr einfach. Erst die Hauptstraße, dann links …«
»Ach, ich dachte nur … wegen des Marienhofs.«
Die breite Treppe voll ausgerüstet hinunter. »Ich werde mir doch eine Schirmmütze kaufen«, sagte Ginster zum Abschied. Sie zogen nebeneinander fort, zwei Hüte, zwei Mäntel. Erst geradeaus, dann die Hauptstraße rechts. Der Saal war kein Speicher mehr. Ob er ohne Angehörige sei, erkundigte sich Ginster bei Schalupp. Was ja schon ach.Ginster gab ihm seine Torte und sah zu, wie er stumm fraß. So war es gut.
Am anderen Tag wurde ihm zugetragen, daß Knötchen und der Unteroffizier gestern nach der Rückkehr Zigarrenkisten in ihren Bettspinden vorgefunden hätten. Ahrend. Knötchen rauchte ein Exemplar, das einzeln in einer Bauchbinde steckte, während die von Ginster verteilten Stumpen mager in Reihen marschierten. Um die Kisten war Schweigen gebreitet. Ginster wollte sich über ihren Zusammenhang mit Ahrend vergewissern, schwieg aber auch, weil er undeutlich fühlte, daß hier zu forschen gefährlich sei. Kurz danach versagte die Armbanduhr. Zunächst übersah Ginster ihren Tod, weil sie ausnahmsweise die richtige Zeit zeigte. Aber sie tickte nicht mehr, und es wurde immer später. Schalupp sagte, daß er das schnelle Ende vorausgeahnt hätte. Wie Ginster sich nachträglich entsann, hatte er bereits öfters beobachtet, daß gemalte Uhren vor Uhrmachergeschäften und in Läden die Zeit genau angaben, wenn er an ihnen vorüberkam. Die Zeit schien sich nach seinem Zusammentreffen mit ihnen zu richten, und vielleicht wurde durch die Übereinstimmung einer Uhr mit ihr nur bewiesen, daß die Zeiger aufgemalt waren. Eine neue Uhr sich anzuschaffen, hielt er für überflüssig. Bei der strengen Tageseinteilung wäre die Zeit durch sie bloß verdoppelt worden, und über eigene Minuten verfügte er nicht. Was sollte er mit dem Ührchen jetzt anfangen, es störte am Arm und war doch so zierlich, daß er es nicht einfach fortwerfen mochte. Nachdenklich öffnete er sein Holzkistchen, griff hinein und fühlte in der Tiefe etwas Weiches. Die Fußlappen. Er hatte sie ihrer Unverwendbarkeit wegen halb vergessen gehabt und war auch zu beschäftigt gewesen, um seinemursprünglichen Vorsatz gemäß ab und zu über sie hinzufahren. Nun erhielten sie ihre Bestimmung. In einem unbewachten Augenblick bettete er den erloschenen Mechanismus sorgfältig in die Tücher, versenkte die Last auf den Grund des Kistchens und schüttete die anderen Sachen darüber. Obwohl das Lederriemchen noch unverbraucht war, hatte er es doch an der Uhr gelassen. Daß sie sich mit den Fußlappen zusammenfand, befriedigte ihn, denn beide waren nicht für einander vorgesehen. Mitten in der auf die Bestattung folgenden Nacht wurde er durch ein Ticken an seiner Seite geweckt; aber es kam von der lebendigen Uhr des Nachbarschläfers, der sie offenbar aus Müdigkeit nicht abgelegt hatte. Sonst begab sich nichts Außergewöhnliches. Die Grüße hatten sich bereits voll entwickelt, so daß Ginster sie mit kleinen Verzierungen ausstatten konnte. Übrigens litt er unter der Fahrlässigkeit der aus dem Feld beurlaubten Mannschaften, die sich beim Grüßen ungenau ausdrückten. Wenn die
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