Ginster (German Edition)
und oben – daß wieder mit den ungeladenen Karabinern ohne Zielscheibe geübt wurde, empfand er nach seinen drei Schüssen gestern als den demütigenden Versuch, ihn auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückzudrängen. Die Übungen dienten gar nicht dem Krieg, sondern der ganze Krieg war ein Vorwand für die Übungen. Sie fanden um des Vizefeldwebels willen statt; damit der Vizefeldwebel seinen Säbel über die Erde schleifen lassen konnte. Jetzt ging er rasselnd von Mann zu Mann und verbesserte die Haltung beim Zielen. Während er die Leute abfeilte und zurechtbog, durfte niemand seine Stellung verändern. Wie lange mußte der Karabiner noch wagrecht ausgestreckt bleiben, Ginsters Arme, die auch von den Hos vorhin mitgenommen waren, erlahmten allmählich. Das Beutelchen war ihm übrigens möglicherweise schon auf der Landstraße entglitten. Immer hoch in die Luft. Später, wenn die Arme nicht mehr gebraucht wurden, kam wieder Morck an die Reihe. Einen Augenblick nur den Karabiner sinken zu lassen –
»Wie stehen Sie denn da, Sie …«
Mit seiner letzten Kraft bemühte sich Ginster, den untergehenden Karabiner zu retten. Der Vizefeldwebel stampfte in Ginster hinein, riß ihm die Beine ab, versetzte seine Schultern und drehte ihm den Kolben wie einen Knochen im Leibe herum.
»Ich habe doch gestern … im Schießstand … meine drei Schüsse.«
Die Arme waren längst herabgefallen. Als sei eine kostbare Vase zerschmettert.
»Da hört sich doch verschiedenes auf … Sie, Mensch, ich kenne Sie … Den Karabiner angelegt.«
Es ging nicht. Schluß.
»Verzeihen … ich bin krank … vielleicht –«
Morck wandte den Kopf, Schalupp blinkte im Karabinerlauf.
»Was krank … drücken wollen Sie sich.«
Ginster mußte für sich lächeln. Gerade eben vermochte er sich mit dem besten Willen nicht zu drücken, seine echten Arme waren zu schwer.
»Los.«
Nicht los. Wahrscheinlich brüllte der Schleppsäbel jetzt Hua. Das Beutelchen war unter Umständen auch zwischen die Bettschächte gerutscht.
»Austreten.«
Alle Karabiner starrten ins Leere.
»Wo soll ich denn hin …«
Der Säbel stach nach ihm:
»Ins Revier scheren … Den Karabiner um, marsch, Sie …«
Von der Säbelspitze fortgeschleudert. Durch die Grüße, Kanonen, Laufschritte auf dem Hof zum Revier gesprungen. Atemlos, dienstlich verfolgt. Der Karabiner schlenkerte ausgelassen, was tat ein blühender Karabiner beim Arzt. Hinter dem Tisch der Sanitätsunteroffizier war seit dem letzten Mal wieder angeschwollen, lauter Wülste, die sich im überheizten Zimmer nach unten verdickten. Die vier Tischbeine standen stramm.
»Bin krank geworden, eben plötzlich«, meldete Ginster.
»Sie scheinen hier Stammgast werden zu wollen.«
Der Tisch war ein Stammtisch, auf dem ein belegtes Butterbrot lag, über das die Drohworte sausten; von sämtlichen Wülsten abgeschnellt. Auf dem flachen Dachgarten des Sanitätskopfes zog sich ein Stoppelfeld hin. Ginster verteidigte sich: »Herr Vizefeldwebel Leuthold haben – – hat mich geschickt.« Im anstoßenden Untersuchungsraum wogten nackte Oberkörper durcheinander, die den Unterarzt erwarteten. »Mensch, stelle bloß deinen Karabiner weg« – irgendein Sanitäter. Ginster setzte sich angezogen zu den Leuten auf die Bank, eine richtige Leutholdbank, er zitterte noch von Morck her, dem Säbel, dem Beutelchen. Manchmal sah er sich nach dem Karabiner in der Ecke um. Niemand sprach. Die Fenster bestanden aus genauen Quadratscheiben, die vergeblich das Fleisch einzurahmen versuchten, das im Vormittagslicht blaß zerlief. Weich entquoll es den Hosen, dehnte sich wider jede Vorschrift nach allen Seiten und zeigte überdeutlich seine Wölbungen und Buchten. Wie es sich so zerstreut preisgab – ärmliches Fleisch, das nur selten beliebig ausfließen durfte –, war der Gedanke nicht vollziehbar, daß es draußen häufig zerfetzt wurde und sich in die engen Gamaschenstiefel zwängen mußte. Einer hustete trocken, ein anderer hatte Narben am Oberarm. Die vielen Haare bei Männern. Mit den Gamaschenstiefeln quälte sich Ginster immer mühselig ab, vor allem, wenn sie naß waren; sie wollten nicht über die Hosen. Auf den Wunsch des Sanitäters hin entblößte er sich jetzt bis zum Gürtel. »Achtung.« Der Unterarzt. Ein Neuer mit einem schwarzen Bart. »Der soll ganz schlimm sein«, flüsterte der Mann mit den Narben, ein älterer Soldat, der vermutlich schon eine Menge von Unterärzten durchgemacht hatte. Ginster blickte
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