Girl
dem Augenblick an, da ich mich dabei ertappte, wie ich meine Rückenansicht im Spiegel überprüfte, wüsste ich, dass ich dazugehörte.
23. Dezember
Ich bin wieder zu Hause … und ich bin immer noch Bradley. Ich habe denen im Krankenhaus gesagt, dass ich die Weihnachtstage als Bedenkzeit brauche. Nicht dass ich mich anders entscheiden würde – es gab kein Zurück. Aber ich wollte mich zuerst an den Gedanken gewöhnen. Und dazu musste ich die Geschichte auch noch der Familie beibiegen. Ich hatte bereits kurz mit Mum am Telefon darüber gesprochen, und sie hatte es meiner Schwester Kate weitererzählt, nur Dad war ein Problem. Wie würde er reagieren?
Ich würde es bald erfahren. Die Ärzte hatten gesagt, ich dürfte Weihnachten in Manchester verbringen. Sie gingen davon aus, dass ein paar Tage Pflege im Kreis der Familie nur gut für mich sein könnten, und so holte mich Kate mit dem Wagen in London ab.
Sie hatte sich ein paar Tage frei genommen – was bei ihr dem gewöhnlichen Jahresurlaub anderer Leute entsprach aber sie sagte, sie würde es gerne tun. Sie könnte so ein paar Weihnachtseinkäufe erledigen und außerdem noch einige alte Freunde von der Uni besuchen. Ich war froh darüber, mich auf der Heimfahrt im Wagen ausgiebig mit ihr unterhalten zu können. Seit dem Zwischenfall im St. Swithin’s hatten wir immer nur kurz am Telefon miteinander gesprochen.
Es war nicht so, dass Kate nicht bekümmert gewesen wäre. Als sie mir sagte, sie könne nicht eher kommen, weil sie zu viel zu tun hätte, entsprach dies genau der Wahrheit. Kate war diejenige in der Familie mit festen Prinzipien. Und auch diejenige, die alle Intelligenz abbekommen hatte. Sie war in London aufs University College gegangen und hatte eine Eins in Jura gemacht. Sie war der ganze Stolz meiner Eltern – immer hatten sie mir ihre akademischen Meriten als Beispiel vorgehalten. Aber bei mir hatte es gerade mal zu einer mäßigen Zwei in Wirtschaft an der örtlichen Polytechnik gereicht.
Trotzdem neidete ich Kate nicht den Erfolg. Sie rieb ihn mir nie unter die Nase, und außerdem war sie immer auf dem Teppich geblieben. Sie hätte einen Bombenjob in London bekommen und das dicke Geld machen können. Die Firmen hatten sich um sie gerissen. Aber sie war zurück nach Manchester gegangen und hatte als Sozius in einer kleinen Anwaltskanzlei angefangen, die sich auf Rechtshilfe spezialisiert hatte und beispielsweise Junkies vertrat, die wegen Einbruchs vor Gericht standen, oder kurdische Einwanderer, denen die Abschiebung drohte. Damit verbrachte sie neunzig Prozent ihrer Zeit, und die restlichen zehn Prozent widmete sie einer Bürgerberatungsstelle, wo sie unentgeltlich Rechtsangelegenheiten erledigte.
Meine Eltern konnten es kaum fassen. Ihre aufgeweckte Tochter, der Stolz der ganzen Nachbarschaft, arbeitete bis zum Umfallen, und alles, was sie vorzuweisen hatte, war ein runtergekommenes Einzimmerapartment und ein sechs Jahre alter Golf Diesel. Sie hatte nicht einmal eine feste Beziehung, weil keiner der Männer, die ihr über den Weg liefen, sich mit dem zweiten Platz hinter ihrer Arbeit zufriedengeben wollte. Aber warum sich aufregen? Sie war ja nicht drogenabhängig geworden oder hatte uneheliche Kinder in die Welt gesetzt. Sie hatte einfach bloß ein zu gutes Herz.
Es stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wir hätten kaum gegensätzlicher sein können. Ich dünn und blond, und sie ein wenig pummelig und dunkel. Sie hat lange, lockige Haare, die sie hinten zusammenzubinden versucht, aber immer lösen sich einzelne Strähnen und fallen ihr ins Gesicht. Sie sieht nicht übel aus, und wenn sie sich Mühe gibt, kann sie sogar richtig etwas aus sich machen. Aber sie redet immer nur davon, wie man sich überhaupt um sein Äußeres Sorgen machen kann, wo doch so viel Schreckliches in der Welt passiert. Und eins ist ganz sicher: Was man nicht im Body-Shop kaufen kann, kommt bei unserer Kate garantiert nicht ins Gesicht.
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst«, sagte ich, während sie ihren Wagen vom Krankenhausparkplatz steuerte. »Opferst dich für diese ganzen Knalltüten auf, die einen Rechtsbeistand brauchen. Als wir noch klein waren, warst du doch ganz anders. Da hast du die kleine, propre Madam gespielt, du und deine Freundinnen. Ständig habt ihr mit euren Puppen rumhantiert und mich bei Mum und Dad angeschwärzt.«
»Sei bloß vorsichtig …«, sagte sie, aber ich stichelte weiter.
»Noch ist es nicht zu spät. Du kannst immer
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