Girl
nichts Greifbares, das war ja gerade mein Problem, aber ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich auf bestimmte Dinge anders als sonst reagierte. Allein die Tatsache, dass ich hier mit Kate im Auto saß und einfach drauflosplauderte. Früher gab es so was nie.
Es stimmte einfach nicht, dass ich bloß wütend oder verwirrt war, obwohl es sicherlich dazugehörte. Aber es spielte sich auch noch etwas Tiefgründigeres ab.
Wir fuhren also in Richtung Norden, und obwohl es gerade mal kurz nach drei Uhr nachmittags war, stand die Sonne bereits so tief am Himmel, dass Kate ihre Ray-Bans aufgesetzt hatte. Sie sah darin richtig flott und unternehmungslustig aus, nicht mehr so sehr wie die wohlanständige, sozialistische Anwältin, sondern eher wie die ungezogene Göre, die früher ihren kleinen Bruder dazu angestiftet hatte, Dinge zu tun, von denen beide genau wussten, dass sie ihm gehörigen Ärger einbringen würden.
»Du spinnst dir doch gerade wieder einen deiner berüchtigten Pläne zusammen, oder?« sagte ich, während sie mir ein durchtriebenes Grinsen zuwarf. »Was du auch vorhast, vergiss es. Ich habe meine Lektion als Kind gelernt. Mit welchem Vorschlag du auch kommst, die Antwort lautet nein.«
»Ich überleg’ nur gerade …«, sagte sie ein wenig spöttisch, »… nachdem wir die ganze Zeit darüber gequatscht haben, ob ich nicht eine Art praktische Demonstration für dich arrangieren könnte.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich habe dir doch gesagt, dass die Dinge grundsätzlich anders aussähen, wenn die Leute uns beide für Frauen hielten, und ich sehe, du willst mir das nicht so recht abkaufen. Also gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich die Probe aufs Exempel.«
»Wie bitte?«
»Ich hätte Lust, irgendwo anzuhalten und eine Tasse Kaffee oder Tee zu trinken. Und ich würde vorschlagen, wir verkleiden uns vorher ein bisschen – etwas Make-up vielleicht, ein paar andere Klamotten – und gehen dann in eine ähnliche Raststätte wie heute Mittag. Nur könntest du diesmal die Situation von der anderen Seite aus erleben.«
Ich schluckte. Der Augenblick der Wahrheit – hier war er.
»Na, los doch«, sagte Kate. »Trau dich.«
Das musste ich sofort klarstellen. »Red keinen Blödsinn, ich mach mich doch nur lächerlich. Außerdem würde die Sache sowieso nicht funktionieren. Du kannst mich mit so viel Make-up beschmieren, wie du willst, mein Gesicht ähnelt nicht im entferntesten dem einer Frau. Und das wird es auch nicht, bevor ich nicht die Operation hinter mir habe.«
Kate sah mich von der Seite an, wobei sie zwischendurch immer mal wieder einen Blick auf die Fahrbahn warf, um nicht irgendeinem Brummer hinten draufzuknallen. »Oh, ich weiß nicht. Ich wette, ich könnte dir ohne weiteres ein neues Aussehen verpassen. Ich spiele die Zauberfee, und du bist Aschenputtel.«
»Ich geb dir gleich Aschenputtel.«
»Nee, im Ernst«, sagte sie. »Du setzt dir einen Hut auf und leihst dir meine Sonnenbrille. Ein bisschen Lippenstift, ein wenig Gesichtscreme, du hast dich doch heute Morgen rasiert, oder?«
»Yeah.«
»Na also. Niemand wird etwas merken.«
»Aber ich käme mir wie ein Vollidiot vor.«
»Hör zu, Bradley. Du musst irgendwann anfangen. Und welcher Ort wäre da geeigneter als eine x-beliebige Autobahnraststätte, wo du niemanden kennst und dich keiner kennt? Außerdem könntest du eine angenehme Überraschung erleben. Du bist halb wahnsinnig darüber geworden, weiterhin ein Mann sein zu wollen. Wenn du damit aufhörst, könnte das wie eine Befreiung sein.«
Ich gab keine Antwort. Kate ließ nicht locker. »Also, was ist? Hast du Schiss? Jetzt sag bloß nicht, mein kleiner Bruder ist nicht Manns genug, sich als Frau auszugeben…«
Ulkig, was? Kate überredete mich, in die Rolle einer Frau zu schlüpfen, indem sie mein männliches Ego kitzelte. Ein Leben lang hatte ich es nicht geschafft, auch nur eine ihrer Wetten auszuschlagen. Ich konnte es nie ertragen, vor ihr mein Gesicht zu verlieren.
So standen wir denn eine halbe Stunde später auf dem Parkplatz der Sandbach-Raststätte, und Kate kramte in ihrer Reisetasche herum. Sie brachte ein schwarzes Stretch-Top zum Vorschein, ihren Kulturbeutel, ein weiteres Täschchen, in dem sie ihre Juwelen aufbewahrte, sowie einen zerknüllten Filzhut.
»Also«, sagte sie. »Auf geht’s. Zuerst tauschst du dein Sweatshirt gegen das Top. Nur keine Angst. Ich mach die Scheinwerfer aus. Keiner kann uns sehen.«
Ich tat, was sie sagte. »Puh,
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