Girlfriend in a Coma
Mittagessen chez McNeil war, klapperte Lois, während sie Wasser für Kraft-Maccharoni aufsetzte, dermaßen laut mit Töpfen und Pfannen, daß es sich anhörte, als würde sie wie eine Irre auf Buschtrommeln einhämmern (»Sie will uns demonstrieren, wie sehr sie schuftet«, flüsterte Karen). Als nächstes schnappte Lois Karen und mir das zerdrückte Päckchen Käsesoße wie ein siegessicherer Toreador direkt vor der Nase weg und stellte, es mit den Worten »Das sparen wir uns für eine bessere Gelegenheit auf« in den Schrank. Schweigend aßen Karen und ich dann die halbgaren Nudeln mit Margarine und wechselten dabei verstohlene Blicke. Getränk? Leitungswasser. Servietten? »Ach, nimm einfach deine Hose, Richard. Du bist doch ein Junge.«
Karen war, wie sich denken läßt, mit einem bizarren Verhältnis zum Essen aufgewachsen. Lois, die 1958 bei den Wahlen zur Miss Kanada den zweiten Platz belegt hatte, sah Nahrung als etwas Fremdes an, als ein lebendes Wesen, das einen Paß und Visa benötigte und von Sicherheitsbeamten kontrolliert werden mußte, bevor man ihm Einlaß in seinen Mund gewährte. Die verschiedenen Diätmoden kamen und gingen. Eine Woche war sie vielleicht Veganerin, die nächste hieß es »Nur Kohlehydrate!«. Karen blieb von Lois' blödsinnigen Erhährungsticks keineswegs verschont. Während einer besonders fanatischen Vegetarismusphase in den Siebzigern beging ich den Fehler zu erzählen, daß ich in Benihanas Steakhaus gewesen war; daraufhin mußte ich mir eine flammende, halbstündige Antifleisch-Litanei anhören. Als Karen Lois unterbrach, erntete sie dafür Blicke wie Eiszapfen: »Also wirklich, Karen, wenn du mal anständig essen würdest, könnte vielleicht noch ein attraktives Mädchen aus dir werden, und ich müßte mir nicht so viele Sorgen um deine Zukunft machen.« Zu mir sagte Lois: »Karen ist gerade in diesem ›schwierigen Alter‹. Also, was dieses Steakhaus angeht, Richard ...«
George, Karens Vater, besaß eine Karosseriewerkstatt, in der er jahrein, jahraus sieben Tage die Woche sechzehn Stunden am Tag verbrächte. Außerdem zog er es vor, in Lois-freien Restaurants zu essen. Er war eigentlich gar nicht vorhanden, und aus dieser Abwesenheit erwuchs eine Guter-Bulle/Böser-Bulle-Mythologie: Mrs. McNeil, die hysterische Xanthippe, trieb den armen, rechtschaffenen George aus seinem eigenen Haus. Als »glücklich« konnte man keinen von beiden bezeichnen.
»Ach, ich wüßte zu gern, was Mom für ein Geheimnis hat«, seufzte Karen regelmäßig. »Es scheint da irgendeinen Knaller zu geben. Aber wie soll ich sie bloß darauf ansprechen?« Lois war in Northern British Columbia aufgewachsen und reagierte, wie sich in ihren Blicken, ihrem aufgesetzten Lächeln und ihrem bodenlosen törichten Snobismus zeigte; höchst allergisch auf all jene Menschen, die (in ihren Augen) nicht hart genug für ihr täglich Brot arbeiteten. Spitze Bemerkungen: »Mein Mann lebt von seiner eigenen Hände Arbeit - im Gegensatz zu anderen Eltern in der Nachbarschaft, die in ihrem ganzen Leben noch keine einzige Schwiele hatten!« Das war natürlich auf meinen Vater gemünzt, einen Buchhalter, der wie die meisten Leute in unserer Wohngegend der mittelsten Mittelklasse angehörte und halbwegs, aber auch wirklich nur halbwegs, anständig verdiente. Die Leute am anderen Ende der Stadt hielten unser Viertel am Berg für eine Brutstätte der Unzucht, wo endlose Martinigeschwängerte Soirees abgehalten und Partnertausch praktiziert wurde. Die Realität hätte sie zu Tode gelangweilt, denn sie war von einer bis zur wissenschaftlichen Meßbarkeit mittelklassetypischen Fadheit. Meine Mutter stellte eines schönen Sommerabends im Jahre 1976 beim Grillen geradezu prophetisch fest, unser Viertel sei »wie ein von Gott vergessenes Land«. Genau.
Der erste Monat von Karens Koma war eine Katastrophe ungewohnt und trist. Die Hoffnung verflüchtigte sich tröpfchenweise, so daß wir gar nicht gewahr wurden, wann sie uns völlig abhanden kam. Wir lagen alle mit einer Grippe flach - zum Glück mußten wir dadurch in der letzten Woche vor Weihnachten nicht mehr zur Schule. Wir besuchten uns gegenseitig und telefonierten ziemlich viel miteinander. Freitag abend rief .Hamilton an: »Natürlich«, sagte er, »zerreißen sie sich jetzt an der Schule die Mäuler über uns.« Ich mußte ihm zustimmen. »Das ist Leichenfledderei«, sagte er, hielt inne, um in sein Taschentuch zu trompeten, und fügte dann hinzu: »Gott, mein
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