Girlfriend in a Coma
Sorgen verschont bleiben konnten - und von der Trauer um etwas Verlorenes.
Der Zug war vorbei. In unseren Ohren pochte die Stille. Wir standen auf und gingen nachdenklich zurück zum Tunneleingang und hinaus in den Regen. Wir stiegen in Linus' Van und fuhren zu Megan. Ich hoffte, Lois würde so großzügig sein, zu gestatten, daß vier neue Patenonkel und -tanten ihre Liebe zu Megan teilten.
Linus fragte: »Kann sie mit drei Monaten schon sprechen?“
»Nein, du Schwachkopf«, sagte Hamilton, »sie ist zu sehr damit beschäftigt, Zufallszahlen zu generieren, als daß sie sprechen könnte.«
Ich nickte. »Es fällt mir wirklich nicht leicht, das zu sagen, aber die arme kleine Megan wird tatsächlich mal aussehen wie ich mit einer Arschkopfperücke auf dem Kopf.“
»Ich wußte gar nicht, daß du und Karen ... äh ... es miteinander getrieben habt«, sagte Hamilton. »Ich meine, wenn, dann habt ihr es ziemlich gut geheimgehalten.“
»Tja, stell dir mal vor«, sagte ich, dann fuhren wir los. Alle bis auf mich - plapperten durcheinander, froh, wieder auf dem neuesten Stand zu sein. Ich mußte daran denken, wie Karen gesagt hatte: »Wird das noch mal was mit uns beiden, oder was?« Daran, wie die zarten Vögel und Schmetterlinge und Blumen zwischen unseren Leibern hin und her geschwebt waren. Daran, wie entschlossen sie an ihrem letzten wachen Tag gewirkt hatte. Wäre sie auch sonst so gewesen? Oder hatte sie gewußt, daß ihr die Zeit davonlief? Hatte sie versucht, soviel in einen Tag zu quetschen, wie sie nur konnte? In jenem Monat hatte ich eine Science-Fiction-Geschichte gelesen, Die letzte Generation. Darin vereinigen sich die Kinder der Erde zu einem Herrenvolk, das gemeinsam träumt und vereint Planeten bewegen kann. Das brachte mich auf die Frage: Was, wenn die Kinder der Erde statt dessen über die ganze Welt versprengt würden, sich ausklinkten, ihre Träume löschten und zu leeren Hüllen würden? Was, wenn Auflösung, Amnesie und Koma an die Stelle der Geschlossenheit träten? Das war das Bild, das Karen gezeichnet hatte: Sie hatte etwas vor ihrem geistigen Auge gesehen - irgendwann zwischen dem zu klein gewordenen Bikini und den albernen Valiumpillen, beim Anziehen einer Daunenjacke oder eines Skistiefels an einem kalten Wintertag, oder vielleicht während sie ein anderes Fernsehprogramm einschaltete oder mit ihrem Honda um eine Ecke bog. Sie sah ein Bild, wie bruchstückhaft es auch gewesen sein mag, aus dem sie schloß, daß die Zukunft kein Ort war, den sie besuchen wollte - daß die Zukunft kein Ort ist, an dem , man sich aufhalten sollte. Das ist es, was mir zu schaffen machte - der Gedanke, daß sie womöglich recht hatte.
9
Sogar noch realer als du
Ein halbes Jahr nachdem sie Megan zur Welt gebracht hatte, wurde Karen bis auf weiteres in ein Einzelzimmer in einem Pflegeheim verlegt, das damals den Namen Inglewood Lodge trug. Auf ihrem Nachttisch fanden sich Feuchtigkeitscremes, Modeschmuck, eine Haarbürste aus Holz, eine Kleenex-Schachtel in einem rosa Rüschenüberzug, Geburtstagskarten, die mit peinlicher Genauigkeit immer wieder aktualisiert wurden, gerahmte Familienfotos, Plüschtiere (eine Garfield-Katze, zwei Teddybären, ein Eisbär), Bücher für Besucher The Best of Life und Jonathan Livingston Seagull -, sowie eine Kletterpflanze, eine Dieffenbachie, die im Lauf der Zeit das gesamte Zimmer besiedelte. Das Radio blieb häufig stundenlang eingeschaltet.
Karens »Tag« begann genaugenommen kurz vor Mitternacht, wenn ihr Körper von ihrer »Wechseldruck«-Matratze gegen Wundliegen gehoben und umgedreht wurde. Dabei wurde ihre Kleidung inspiziert, um festzustellen, ob sie gewechselt werden mußte. Zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens wurde Karen noch zwei weitere Male umgebettet; außerdem bürstete man ihr den Mund mit einer weichen Zahnbürste und tupfte ihn dann mit einem aromatisierten Schwamm ab; danach wurden ihre Lippen mit Vaseline eingerieben. Zweimal pro Woche wurde Karen morgens gebadet, wobei eine Schwesternhelferin »Mobilitäts«-Training mit ihr machte, indem sie Schultern, Arme, Streckmuskeln, Abduktoren und alle Gelenke beugte und streckte. An den anderen Tagen wurde sie mit einem Schwamm gewaschen und ebenfalls krankengymnastisch behandelt.
Während der Wachphasen wurde Karen mittels einer J-Sonde (Jejunostomie-Sonde), die die ganze Zeit an einem Ventil neben ihrem Bauchnabel angebracht war, aus einem Hängebeutel mit Hilfe der Schwerkraft Nahrung in den
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