Giselles Geheimnis
zwischen ihnen geherrscht hatte.
Vermutlich ist er erleichtert und dankbar, dass wir unterbrochen wurden, dachte Giselle, als sie oben auf der Treppe angekommen waren. Von hier ging eine Galerie zu beiden Seiten ab. Pflichtschuldig folgte Giselle Stefano bis zu der Tür am Ende, die er für sie öffnete.
Sie achtete sehr genau darauf, dass sie ihn nicht zufällig berührte, als sie über die Schwelle trat. Für einen Augenblick wurde ihr stummes Elend verdrängt von dem Anblick, der sich ihr bot – das Zimmer wirkte wie einer der Räume aus den denkmalgeschützten Herrenhäusern, die ihre Tante früher so gern besichtigt hatte.
Über einem grazilen Baldachinbett hing ein Himmel aus Seide mit einem blauen und cremefarbenen Muster, das von dem wertvollen Teppich aufgenommen und zum Teil an den holzverkleideten Wänden weitergeführt wurde. Mit Goldfarbe reich verzierte Möbel waren ansprechend in dem Raum arrangiert, einschließlich einer zierlichen Chaiselongue und eines kleinen Schreibtisches mitsamt Stuhl. Vor dem offenen Kamin standen zwei solidere und sehr einladend wirkende Sessel.
Stefano deutete jetzt auf die beiden Türen am Kopfende des Bettes. „Diese Tür führt ins Bad, die andere ins Ankleidezimmer.“ Dann setzte er noch hinzu: „Das Dinner wird um zehn serviert, wie du dich sicherlich erinnerst.“
Giselle nickte nur und sah ihm nach, wie er den Raum verließ. Auch wenn er ihr Vorgesetzter war … in London war ihr die Kluft zwischen ihnen niemals so deutlich geworden wie hier. Sie lebten in völlig verschiedenen Welten. Nicht dass es wichtig wäre.
Dass sie … kurz ein paar Intimitäten getauscht hatten, bedeutete nicht das Geringste. Vor allem bedeutete es Stefano nichts. Aber das hatte sie ja schon vorher gewusst. Und dass sie diese Intimitäten genossen und willkommen geheißen hatte, bedeutete auch nichts. Es konnte und durfte nichts bedeuten, nicht jetzt … niemals.
Erst jetzt, da sie sich entspannen und wieder normal atmen konnte, erlaubte sich Giselle, ihre Emotionen, die sie bisher eisern zurückgehalten hatte, zuzulassen, und warf sich auf das Bett.
Warum war das Leben so grausam zu ihr? Hatte sie noch nicht genug gelitten? War sie denn nicht schon bestraft genug? Düstere Gedanken von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung wirbelten in ihrem Kopf, Gedanken über die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz. Aber so durfte sie nicht denken. Solche Gedanken bargen immer eine unaussprechliche Gefahr.
Hektisch rappelte Giselle sich von dem Bett auf. Sie musste etwas zu tun finden, etwas, das sie beschäftigte und auf andere Gedanken bringen würde. Damit sie wieder zu Verstand kam. Wo war ihr Laptop? Sie sollte sich auf ihre Arbeit konzentrieren, nur an die Dinge denken, die nichts mit ihren völlig chaotischen Gefühlen zu tun hatten.
Eine Besichtigung des Bads und des Ankleidezimmers ergab, dass beide Räume größer als das Schlafzimmer in ihrer Wohnung waren. Im Bad gab es eine wunderschöne alte Badewanne mit eisernen Klauenfüßen, die mitten in dem weiß gefliesten Raum mit den goldenen großen Spiegeln stand.
Jemand hatte ihren Koffer bereits ausgepackt und ihre wenigen mitgebrachten Sachen ordentlich in einen der beiden großen Schränke gehängt. Ihr Laptop war sorgfältig auf einen der Schemel gelegt worden. Erleichtert zog Giselle mit zitternden Fingern den Reißverschluss der Tragetasche auf und nahm den Computer hervor.
Arbeit – das war das Heilmittel, das Gegengift für die Krankheit, die ihr zu schaffen machte. Wie hatte sie die Dinge nur so außer Kontrolle geraten lassen können? Ihr eigenes Verlangen, die schmerzhafte Sehnsucht nach Stefanos Liebkosungen, danach, von ihm in die Arme gezogen zu werden und …
Gereizt legte sie den Laptop ab und begann, im Ankleidezimmer auf und ab zu laufen.
Stefano hörte Aldo nur mit halbem Ohr zu, seine Gedanken waren nicht konzentriert bei dem, was sein Cousin ihm berichtete. Stattdessen drehten sie sich um Giselle.
Wie war das geschehen? Wie konnte eine Frau, die ihn zuerst irritiert und maßlos verärgert hatte, die Macht haben, sich in seine Gedanken und seine Sinne zu schleichen und dort eine so intensive Wirkung auszuüben, dass ihre Präsenz alles andere verdrängte? Was mochte sie jetzt wohl gerade tun? Verspürte sie die gleichen Qualen wie er? Dachte sie an die Freuden, denen sie sich jetzt miteinander hingeben würden, wären sie nicht unterbrochen worden?
„Natashas Vater hat mir die Möglichkeit geboten, in die
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