Giselles Geheimnis
Er hatte sogar Tee für sie aufgebrüht, nachdem sie den Champagner, den er ihr zuerst anbot, abgelehnt hatte.
Inzwischen war es nach zwei Uhr morgens, doch Giselle hatte sich nie lebendiger und wacher gefühlt.
Sie ließ sich von Stefano mit dem köstlichen Essen füttern und genoss jede Sekunde des Zusammenseins mit ihm, während er ihr die Fragen stellte, mit denen sie gerechnet hatte und die zu beantworten sie auch bereit war.
„Du warst noch Jungfrau“, sagte er leise, und seine Stimme wurde sanfter, als er fragte: „Wieso hast du mich ausgesucht, um ausgerechnet mit mir deine Jungfräulichkeit zu verlieren?“
Er hatte den Teller, von dem er ihr die Bissen in den Mund schob, abgestellt und zog sie in seine Arme, drückte ihren Kopf sanft an seine Schulter. Das leise Gefühl, das sie beschleichen wollte, verdrängte Giselle hastig. Sie wusste ja, durch die Intimität und Nähe, die sie jetzt miteinander teilten, zeigte ein erfahrener Mann wie Stefano lediglich seine Lockerheit nach dem Sex. Mit tieferen Gefühlen oder gar einem Zeichen für eine feste Beziehung hatte das nichts zu tun. Dieses Wissen half Giselle, sich auf seine Frage zu konzentrieren und sie ehrlich zu beantworten.
„Das weißt du doch. Nun, mehr oder weniger.“
Mit den Fingerspitzen hob er ihr Kinn an und schaute ihr in die Augen. „Wirklich?“
Sie nickte. „Ja. Ich wollte mit dir schlafen. Zuerst hat es mich schockiert und geängstigt. Bevor ich dich traf, war es relativ leicht für mich, kein Begehren für einen Mann zu fühlen. Ich wusste, dass ich es nicht sollte, nicht durfte, weil es falsch gewesen wäre wegen … nun, wegen …“
„Wegen deiner Kindheit?“
„Ja.“ Sie war ihm dankbar, dass er ihr mit seiner Frage über diesen Stolperstein hinweggeholfen hatte. „Genau deswegen. Mir war klar, dass ich kein Kind … keine Kinder haben sollte. Aber ich wollte auch keine Parade von Männern durch mein Leben und mein Bett ziehen lassen. Außerdem hatte ich Bedenken, weil ich vielleicht Gefühle für einen von ihnen entwickeln könnte oder einer von ihnen für mich. Aber mit dir ist es anders.“
„Weil du wusstest, dass ich das mit deiner Kindheit verstehen würde?“
„Ja …“ Giselle hoffte, dass Stefano das kurze Zögern nicht bemerkt hatte. Sie konnte ihm ihr dunkles Geheimnis nicht anvertrauen, das ihr das Glück und die Erfüllung, die für andere Frauen so selbstverständlich waren, verwehrte. Nicht, wenn sie sich so glücklich und … normal fühlte. Stefano die Wahrheit zu gestehen, würde nur alles verderben, und es hätte ja auch keinen Sinn gehabt. Er brauchte es nicht zu wissen, nicht, wenn dieser wunderbare, überirdisch schöne Moment sowieso nicht lange andauern würde.
Die Wahrheit war erschreckend und abstoßend. Sollte sie sie ihm offenbaren, würde er sie mit ganz anderen Augen sehen. War es denn so falsch, dass sie diese Erinnerung mit ihm ungetrübt in ihrem Herzen bewahren wollte? Nein. Nicht, wenn sie doch schon jetzt wusste, dass die Freuden, die er ihr geschenkt hatte, alles waren, was sie von ihm erhalten konnte.
Stefano zog Giselle enger an sich. Das arme kleine Mädchen musste einst wesentlich mehr unter dem Verlust der Eltern gelitten haben als er. Sie hatte ja nicht nur die Eltern verloren, sondern auch einen kleinen Bruder, wie sie erzählt hatte. Es musste ihr schon in jungen Jahren verdeutlicht haben, wie vergänglich das Leben war, und sie mit der ständigen Angst erfüllt haben, die zu verlieren, die sie liebte.
Zärtlichkeit und der Wunsch, sie zu beschützen, erfüllten ihn. Gefühle, die er bisher immer ärgerlich unterdrückt hatte, sobald sie sich auch nur ankündigten. Doch jetzt schienen sie ihm keine verhassten Gegner mehr zu sein, sondern völlig natürliche Begleiter der anderen Emotionen, die er empfand.
Emotionen? Nun, das würde er später analysieren. Vorerst war es seine Pflicht, sich um Giselle zu kümmern. Für das Mädchen, das sie einst gewesen war, hatte er nicht da sein können, für die Frau, zu der sie in seinen Armen geworden war, schon. Ein solch großer Schritt konnte nicht gemacht werden, ohne dass die Person, die ihn machte, nicht tief von der Veränderung betroffen wurde – auch wenn Giselle sich dessen vielleicht noch gar nicht bewusst war. Er allerdings war sich dessen bewusst, und es war seine Pflicht, ihr bei diesem Übergang beizustehen.
„Ich war wütend und verärgert über mich selbst, als mir klar wurde, dass ich dich wollte. Aber
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