GK0196 - Die Spinnen-Königin
Es interessierte ihn im Moment auch nicht. Er wollte nur zusehen, daß er noch an Bord kam.
Suko rannte zum Steg zurück, nahm einen Anlauf, und dann wirbelten seine kräftigen Beine über den Steg.
Der Chinese sprintete wie ein Olympiateilnehmer, erreichte innerhalb von wenigen Sekunden das Ende des Stegs, schnellte sich mit beiden Füßen kraftvoll ab und flog wie ein von der Bogensehne abgeschossener Pfeil durch die Luft.
Es war eine artistische Meisterleistung.
Suko sah die Bordwand des Kahns vor sich auftauchen. Für einen Herzschlag lang hatte er das Gefühl, es nicht zu schaffen, doch dann krallten seine karategestählten Finger sich den oberen Rand der Bordwand und ließen nicht mehr los.
Schwer krachte sein Körper gegen die Außenhaut des Schiffes. Suko spürte den Aufprall bis in die Haarspitzen. Sein Gesicht verzerrte sich, doch er hielt fest.
Unter ihm wirbelte die Schiffsschraube die schmutzigen Fluten der Themse auf. Gischt spritzte, das Ruder bewegte sich.
Suko zog sich an Bord. Wie ein Igel rollte er sich an Deck zusammen, sah einen kleinen Aufbau und nahm hinter ihm Deckung.
Das war geschafft.
Der Chinese atmete auf.
Das Boot hatte sich jetzt immer weiter vom Ufer entfernt, war eingedrungen in die Nebelwand.
Die Witterung begünstigte Sukos Vorhaben. Der Nebel - er wirkte wie ein zäher Sirup - verteilte sich schwadenartig über das gesamte Deck. Dann tutete auch das Horn des Schiffes. Es hörte sich an wie das Brüllen eines Urweltungeheuers.
Suko orientierte sich anhand der Lichter, die er als farbige, verwaschen wirkende Flecke erkannte. Er sah auch die Umrisse des wuchtigen Deckaufbaus und hörte die Stimmen der Gäste.
Irgendwie mußte er sich mit John Sinclair in Verbindung setzen. Das war äußerst schwierig, denn Suko konnte sich in seinem Aufzug unmöglich unter die Gäste mischen, ohne aufzufallen. Der Chinese trug eine lange dunkle Hose, einen schwarzen Pullover und eine Lederjacke von der gleichen Farbe.
Geduckt schlich Suko über das Deck. Es interessierte ihn auch, was sich im Bauch des Schiffes befand, und der Chinese änderte den Plan. Er wollte sich erst unten umsehen, bevor er mit John Sinclair zusammentraf.
Suko erreichte die Rückseite des großen Deckaufbaus. Licht fiel durch die Fenster. Der Chinese preßte sich dicht an die Wand und peilte durch die Scheibe.
Er sah die Gäste, die sich die wertvollen Ausstellungsstücke ansahen oder plaudernd beisammen standen. Im Hintergrund war ein kaltes Büfett aufgebaut worden. Eine schwarzhaarige Chinesin war dabei, es aufzudecken.
Dann wurde Suko gestört.
Sein feines Gehör hatte ein verdächtiges Geräusch vernommen. Es klang wie das Knarren einer Tür.
Der Chinese drehte sich um. Er sah nichts. Der Nebel verschluckte alles.
Und doch glaubte Suko sich nicht getäuscht zu haben.
Er schlich einige Schritte vor - und blieb wie angewurzelt stehen.
Direkt vor sich sah er eine Luke, die in das Innere des Schiffes führte. Es war eine Falltür, und der Deckel war hochgeklappt.
Jemand war also auf das Deck geklettert.
Aber wer?
Suko spürte die Gefahr. Seine Nackenhaare stellten sich quer. Jeden Moment erwartete er einen Angriff.
Der Chinese nahm die Stellung eines Karatekämpfers an. Langsam drehte er seinen Kopf nach links.
Das häßliche Zischen traf ihn trotzdem unvorbereitet. Es kam aus der entgegengesetzten Richtung.
Der Chinese wirbelte herum.
Und stand genau vor dem Spinnenmonster!
***
Wie hatte Madame Wu noch gesagt? Wir haben einen guten Kapitän oder so ähnlich.
Davon jedoch war John Sinclair längst nicht überzeugt. Er wollte sich den Mann erst ansehen.
Die Lage war recht günstig. Madame Wu hatte sich zum kalten Büfett hinbegeben. Wahrscheinlich würde sie mit einigen Worten das große Fressen eröffnen.
Zeit für John, um zu verduften.
»He, wo willst du hin?« fragte Bill Conolly, als er merkte, daß John sich von ihm wegmogelte.
»Auf die Brücke, falls es so etwas überhaupt gibt. Ich will mir mal den Kapitän ansehen.«
Bill schüttelte den Kopf. »Ich glaube, da hast du dich geschnitten.« Im selben Moment wurde der Reporter blaß. »Mensch, John, hier gibt es gar keinen Steuerstand oder eine Brücke. Ich habe wenigstens nichts gesehen…«
Sinclair nickte. »Eben.«
Bill wollte ihn begleiten, doch John wehrte ab. »Bleib du bei Sheila, das andere schaffe ich schon allein.«
Da die Gäste dem kalten Büffet zuströmten, fiel es dem Oberinspektor leicht, unbemerkt den Ausgang zu
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