GK083 - Der Henker aus dem Totenreich
dich schon kalt und steif und mit einer Garrotte um den Hals vor meinem geistigen Auge.«
Ich grinste.
»Da war doch hoffentlich nicht der Wunsch der Vater des Gedanken!«
»Holzkopf!«, brummte der Professor ärgerlich. »Du verdienst es ja gar nicht, dass man sich um dich Sorgen macht.«
Er wollte mir erzählen, dass Herrmann Wolf bereits gestanden hatte. Ich sagte ihm, dass mir vor dem Haus Capitano Delgado über den Weg gelaufen sei.
»Dann weißt du natürlich bereits alles«, meinte mein Freund.
»Richtig. Ich weiß alles«, gab ich zurück. »Du aber noch nicht. Deshalb wollen wir die Lücke auf der Stelle schließen.«
Nun erfuhr auch er von meinem Erlebnis auf dem Friedhof. Lance hörte mir gespannt zu. Er unterbrach mich kein einziges Mal, aber ich erkannte an seinen straffen Zügen, wie sehr ihn das alles interessierte. Nach meinem Bericht verließen wir die Wohnung des Deutschen, in der sich die Ereignisse an Dramatik überboten hatten. Wir fuhren nach Hause.
Vicky schrieb immer noch.
Sie sah müde aus. Und sie wollte mir von Delgados Anruf erzählen, doch ihre Neuigkeit war längst überholt und zum alten Hut geworden. Ich sagte ihr das mit einem schelmischen Zwinkern und erzählte ihr dann, was im Moment wirklich brandneu war.
***
Sie hatten ihm alles abgenommen, womit er sich hätte ein Leid zufügen können. Er besaß keine Schuhbänder mehr, und an der Hose fehlte der schwarze Ledergürtel. Er hatte die Taschen ausräumen müssen und war veranlasst worden, alles abzugeben, was er bei sich hatte.
Damit hatte er gerechnet.
Nun saß er ohne Krawatte, schlampig gekleidet, allein in der U-Haft-Zelle.
Desinteressiert betrachtete er die vollgekritzelten Wände.
Namen standen da. Jahreszahlen, Kreuze waren gezeichnet. Mehrere Galgen, an denen Strichmännchen hingen.
Grau und trostlos war die kleine Zelle.
Herrmann Wolf hatte nicht die Absicht, sich hier drinnen lange aufzuhalten. Er wollte sterben. Er hatte genug vom Leben, wollte es nicht mehr haben, wollte es wegwerfen. Und er hatte auch schon seine diesbezüglicher Vorbereitungen getroffen. Er schmunzelte, als würde er sich diebisch darüber freuen, den Polizisten ein Schnippchen geschlagen zu haben. Alles hätte er abgeben sollen. Aber er hatte nicht alles abgegeben. Sie hatten seine Taschen hinterher gründlich durchsucht und hatten nichts gefunden. Das, was er vor ihnen verborgen hatte, hatte er nämlich nicht in seinen Taschen aufbewahrt. In seinen Taschen hätten sie die Rasierklinge gefunden, deshalb hatte er das Futter seines Jacketts aufgeschnitten, um das kleine Blättchen aus Schwedenstahl da zu verstecken.
Nun fingerte er in den Schlitz und holte die Rasierklinge heraus.
Zu Hause hatte er gesagt, er wolle sich nur ein Glas Wasser holen. Sie hatten nichts dagegen gehabt, und so war es nicht schwer gewesen, eine Rasierklinge aus der Packung zu nehmen und hierher mitzubringen.
Er staunte darüber, wie ruhig er war. Beinahe liebevoll betrachtete er das scharfe Blättchen. Damit wollte er sich die Pulsadern aufschneiden. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis er tot war, aber er wusste, dass es kaum schmerzhaft war. Nur zwei kleine Schnitte. Das genügte. Dann musste er warten. Es machte ihm nichts aus. Er hatte Zeit. Dass es vom Körpergewicht abhing, wie lange es dauerte, bis er verblutet war, wusste er. Nun, er war nicht übergewichtig. Als würde alles einen normalen Verlauf nehmen. Er zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Normal. War das denn normal, was er vorhatte?
Es war nicht normal.
Aber es gab für ihn keine andere Alternative. Er wollte nicht mehr weiterleben. Und der einzige Ausweg aus diesem Dilemma war ein sauberer Selbstmord.
Mit zusammengekniffenen Augen setzte er die Klinge an.
Ein brennender Schmerz durchfuhr sein Handgelenk. Dann quoll dunkelrotes Blut aus der durchtrennten Ader.
Beinahe gelassen nahm er die Klinge in die andere Hand, um den zweiten Schnitt zu führen.
Dann lehnte er sich an die Wand, zog die Decke bis ans Kinn, Schloss die Augen – und wartete auf den Tod.
***
Vom nächsten Tag an ging ich keinen Schritt mehr ohne meinen Colt Diamondback. Lance lieh ich die Government. Wahrscheinlich vermochten wir gegen den Henker nicht allzu viel mit unseren Waffen auszurichten, aber so eine Waffe hat die gute Eigenschaft, ihren Träger einigermaßen in Sicherheit zu wiegen, ihm Vertrauen einzuflößen, ihm zu veranschaulichen, dass er nicht schutzlos ist.
Vicky Bonney
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