GK470 - Die Teufelsschlange
alle Wesen im Reich der grünen Schatten wirkte auch er zunächst nur wie ein grüner Fleck. Erst bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als ein Ausbund an Häßlichkeit. Er wahr kahlhäuptig, und sein Gesicht war eine abstoßende, widerliche Fratze. In seinen Augen schimmerte Bosheit, Grausamkeit und Verschlagenheit. Eine von seinen drei Händen hielt eine zusammengerollte Peitsche. Damit schlug er, ohne ein Wort zu verlieren, auf Tindissa ein. Das Mädchen schrie grell auf, und Wyxen stieß ein hohntriefendes Lachen aus.
»Warum hast du das getan?« fragte ihn Roxane zörnig, »Warum hast du dieses Mädchen geschlagen?«
Die Peitsche pfiff durch die Luft und traf die Hexe. »Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig! Merk dir das!« schrie Wyxen und schlug noch einmal zu. Der Schmerz peinigte Roxane, aber sie machte diesem grausamen Folterknecht nicht die Freude, zu schreien.
Er brachte ihnen zu essen. Undefinierbares Zeug. Er fütterte die Mädchen damit. Wer nicht essen wollte, der wurde geschlagen. »Eßt nur«, sagte Wyxen grinsend. »Eßt nur, ihr müßt bei Kräften bleiben!«
Ja, das will ich, um stark für die Flucht zu sein, dachte Roxane. Sie wußte nicht, was sie aß, es schmeckte ihr auch nicht, aber sie schlang es hinunter, um nicht schwach zu werden.
»Bald kommt eure große Stunde«, verkündete Wyxen, nachdem alle Gefangenen gefüttert waren.
»Wann?« wollte Roxane wissen, darauf erpicht, die Wahrheit zu erfahren. Es hatte keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken.
»Ihr werdet in der Nacht des schwarzen Mondes sterben!«
Maki schluchzte auf. »Das ist schon morgen.«
Wyxen lachte. »Ja, schon morgen.«
»Warum ausgerechnet in der Nacht des schwarzen Mondes?« fragte Roxane.
»Weil der schwarze Mond die Seelen weiblicher Opfer verdoppelt. Dadurch kann Tingo eine Seele an den Höllenfürsten abliefern und die andere selbst verschlingen.«
Nun wußte Roxane, welchem Umstand sie es verdankte, daß sie noch lebte. Aber ihre Stunden waren gezählt. Morgen brach die Nacht des schwarzen Mondes an, und wenn sie dann immer noch hier war, würde Tingo sie töten.
***
Seit sie sich in dieser unterirdischen Höhle befand, versuchte Roxane, die Fesseln loszuwerden. Auch Maki, Tindissa und Assara hatten dies anfangs versucht, hatten ihr Bemühen aber bald wieder aufgegeben, weil sie einsehen mußten, daß Wyxen im Anlegen von Fesseln unübertreffbar war.
Aber Roxane verstand sich auf Magie. Mit Hilfe von Zaubertricks schaffte sie es zumindest, die Fesseln zu lockern. Das war ein kleiner Schritt auf die Freiheit zu.
Sobald sich Wyxen entfernt hatte, sagte Maki: »Ich habe noch nie jemanden umgebracht, aber Wyxen könnte ich töten, ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Ich auch«, sagte Tindissa. »Er ist schlimmer als der Teufel.«
»Deshalb hat ihn Tingo ja zu ihrem Folterknecht gemacht«, sagte Assara.
»Zerbrecht euch nicht über ihn den Kopf«, warf Roxane ein. »Ich wüßte, wie wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten.«
»Was hast du vor?« fragte Tindissa.
»Ich möchte fliehen.«
Assara lachte gallig. »Denkst du, das möchten wir nicht alle?«
»Ihr würdet mit mir kommen?« fragte Roxane, die Hexe aus dem Jenseits.
»Auf der Stelle. Aber wir sind gefesselt«, sagte Maki.
»Das bin ich auch«, erwiderte Roxane. »Aber ich denke, daß ich die Fesseln loswerden kann.«
»Das gibt es nicht«, sagte Tindissa.
»Ich habe mit Magie ein bißchen nachgeholfen. Dadurch gelang es mir, die Stricke zu dehnen«, verriet ihr Roxane.
»Was meintest du vorhin mit den zwei Fliegen?« wollte Assara wissen.
»Wenn uns die Flucht gelingt, erhalten wir unsere Freiheit zurück. Das ist die erste Fliege«, sagte Roxane.
»Und die zweite?« fragte Assara.
»Wenn wir weg sind, wird Tingo Wyxen, den Folterknecht, hart bestrafen.«
Maki lachte haßerfüllt. »Tingo würde ihn töten. Oh, das wünsche ich ihm. Aber wir kommen von hier nicht weg…«
»Abwarten«, sagte Roxane und konzentrierte sich auf ihre Entfesselungskünste. »Ich glaube, heute kann ich es schaffen.« Sie aktivierte ihre übersinnlichen Fähigkeiten. Ein leises Knistern entstand zwischen ihren Händen, und helle Funken spritzten auf. Die Hexe aus dem Jenseits dehnte und streckte sich. Sie kämpfte verbissen gegen die Stricke an, die sie festhielten, und ihr Einsatz trug Früchte.
Die Funken, ausgesandt von Roxanes Fingerspitzen, zersetzten die Stricke allmählich. Sie wurden brüchig und zerrissen
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