Glaesener Helga
anderen Seite des Friedhofs. Dort stand, abgesondert von der Trauergesellschaft, ein junger Mann mit eingezogenen Schultern und einem grünen Hut, wie er vor zehn Jahren in England in Mode gewesen war. Mit seinen Pausbacken wirkte er wie ein riesenhafter Säugling … wie ein hungriger Säugling, fand Cecilia. Sie bemühte sich vergeblich, ihn einzuordnen. Dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, war gewiss.
»Einer von Luporis Leuten«, half Rossi ihr auf die Sprünge, aber sie konnte sich trotzdem nicht erinnern, wann sie ihm begegnet war.
»Ein Sbirro?«
Er nickte. »Wobei ich nicht weiß, was er hier zu sehen hofft.«
Die Trauergemeinde begann sich zu zerstreuen. Mehrere Frauen und Männer schlossen sich Francesca an, aber nicht viele. Es mochte bereits fünf oder sechs Jahre her sein, seit die beiden jungen Brizzis Montecatini verlassen hatten. Da waren die Bande locker geworden. Unter denen, die blieben, waren auffällig viele Menschen, die Cecilia nicht einmal vom Sehen kannte.
»Fischer aus dem Padule«, erklärte Rossi. »Bevor die Teiche abgepumpt wurden, haben sie mit Mario zusammen die Reusen ausgelegt.«
»Was machen sie heute?«
Er zuckte die Achseln. »Einige jedenfalls Ärger.« Widerstrebend ging er zum Grab, um Francesca ebenfalls sein Beileid auszusprechen.
Die Seifensiederin reichte ihm und Cecilia förmlich die Hand, und da sie die letzten Kondolierenden waren, hätte die Beerdigung damit zu Ende sein sollen. Doch plötzlich tauchte eine junge, hochgewachsene, sehr schöne Frau am Friedhofstor auf. Sie zögerte, als wäre sie mit sich selbst nicht im Reinen, und schritt dann mit steif erhobenem Hals Richtung Grab. Francesca sah sie – und mutierte von einer Sekunde zur anderen zur Furie. Da sie nur humpeln konnte, hatte die Frau ausreichend Zeit, sich zu wappnen. Sie hätte kehrtmachen können, aber sie blieb stehen und hörte sich mit steinernem Gesicht an, wie Francesca sie lauthals eine Hure schimpfte.
Rossi verzog gequält das Gesicht.
»Ist das diese …?«
»Marzia Rondini. Komm, Cecilia, das ist zu hässlich. Ich habe wirklich keine Lust …«
Sie konnten den Friedhof nicht verlassen, die Frauen versperrten den Ausgang. Cecilia sah fasziniert, wie Francesca ausholte und der schönen Marzia eine Ohrfeige gab. Bruno war nicht zur Beerdigung erschienen, so gab es niemanden, der für Ordnung hätte sorgen können. Schimpfworte flogen hin und her. Es war eine der Fischerinnen, die schließlich einschritt und die Trauernde zur Seite zog.
Luporis Sbirro drückte sich immer noch in einer Ecke des Friedhofs herum. Konnte man Francesca aus dieser Szene einen Strick drehen? Störung der öffentlichen Ordnung?
»Ich hätte gar nicht kommen brauchen, du hochnäsige Ziege!« Marzia machte auf dem Absatz ihres hübschen Lederstiefels kehrt und stakste davon, beleidigt und rot vor Scham oder Wut oder einer Mischung aus beidem. Über ihr hing der schwarzgraue Himmel.
»Dieser Sergio Feretti ist das Übelste, was man sich denken kann«, erzählte Rossi, als sie endlich auf dem Heimweg waren. Er warf einen skeptischen Blick zum Himmel und drängte sie, schneller zu gehen. »Der Mann hat sein Vermögen durch ein Grundstück gemacht, das er von seiner Mutter erbte. Ein steiniges … Verflucht, habe ich um Regen gebeten?« Hastig schlug er die Kapuze seines Mantels über den Kopf, während die ersten Tropfen auf sie niederpladderten. Der Regen perlte über die gefrorene Erde. Aus den Augenwinkeln sah Cecilia eine Nonne, die in den Klostergarten von S. Maria in Ripa eilte, um einige vergessene Kutten von der Wäscheleine zu reißen. Die Trauergesellschaft war ihren Blicken längst entschwunden. »Feretti hatte ein steiniges Grundstück geerbt, das Abate Brandi brauchte, um …«
»… seine Rohre …?«
»Nein, dieses Mal ging es darum, den Ursprung einer Quelle zu lokalisieren, aus der dieses schwefelhaltige Wasser kommt, das sie für ihre Bäder benutzen. – Ließe es sich mit deiner Würde vereinbaren zu rennen?«
Der Regen hatte sich in kürzester Zeit zu einem Guss entwickelt. Cecilia hob den Rocksaum. Nasse Haarsträhnen hingen ihr in die Augen, und das Wasser rann eisig ihren Nacken hinab. Sie zitterte, während ihre Füße über das Pflaster flogen, als wäre sie zehn Jahre alt und eine Rotzgöre, die noch nie von Etikette gehört hat. War Grazia ebenfalls mit Rossi gerannt, als die beiden sich noch vertragen hatten? Cecilia unterdrückte ein Lachen. Die Gänsehaut auf ihren Armen fühlte sich an, als
Weitere Kostenlose Bücher