Glaesener Helga
Das ist der Grund, warum meine Familie mich hier abgeladen hat. Wohnungen in Florenz mit großen Fenstern, … einmal eine Villa in Bagno a Ripoli … Ist schon klar – zu teuer. Aber dieser Kerl dort … Sehen Sie ihn?«
Cecilia versuchte einen Blick auf das Gesicht des jungen Mannes neben Rossi zu erhaschen, aber es war fast völlig vom Farn bedeckt, so dass sie nur ein helles Oval wahrnehmen konnte, auf dem sich dunkel wie bei einem Strichmännchen Augen und Lippen abzeichneten.
»Vincenzo ist nicht nur krank im Kopf- er ist krank im Herzen. Und damit meine ich: verdorben. Er ist eine verdorbene Kreatur«, flüsterte die Malerin so angeekelt, als hätte sie einen verschimmelten Apfel in ihrer Obstschale entdeckt.
Vincenzo?
»Ich finde es nicht richtig, dass er an diesem freundlichen Ort wohnen darf.«
Vincenzo? Etwa jener Vincenzo, der Cecilia nackt in den Weinbergen begegnet war, in jener Nacht, in der sie zum ersten Mal nach Montecatini gekommen war? Vincenzo, der in einer Schlacht, in der er kämpfen musste, verrückt geworden war und dem man deshalb alles nachsehen musste? Der Arthur im letzten Sommer angegriffen hatte, weil er in ihm einen Verschwörer vermutete, der ihn an das Heer ausliefern wollte, von dem er desertiert war?
Arthur klopfte mit dem Bleistift auf das Virginal. »Jetzt alle gemeinsam.«
» In pace in idipsum … « Signora Fabbris Stimme quetschte sich in Höhen, die ihr von Natur aus nicht gegeben waren oder die sie ihres Alters wegen nicht mehr erklimmen konnte. Sie war tapfer bis zur Selbstaufgabe. Roberta klopfte mit dem Fuß den Takt. Die junge Dame an Cecilias anderer Seite hatte zu weinen begonnen. Cecilia tätschelte ihr tröstend den Arm, während sie sich bemühte, den Noten zu folgen. O Gütiger, klang das grässlich. Aber es ging ja auch um die Geselligkeit.
»Noch einmal, meine Lieben, von in coelis … Ja, ein Cis , die Damen im Alt.«
Der Sänger neben Rossi – wirklich jener Vincenzo?
– legte seine Noten auf die Knie. Cecilia hatte das Gefühl, dass er zu ihr hinüberstarrte.
»Noch einmal das Cis … «
Und dann war die Probe vorbei, und Gäste und Asylbewohner wurden mit warmen Worten entlassen.
»Der junge Mann, der im Tenor singt – ist das eigentlich jener Vincenzo, der damals über Sie hergefallen ist?«, fragte Cecilia Arthur, als er sie zur Tür geleitete.
»O ja. Er war sogar einer der ersten, der darum bat, an unserem Chor teilnehmen zu dürfen. Und ich will nicht verhehlen, dass ich darüber zutiefst erleichtert war. Der Junge hat irgendwo etwas über den Mord an Mario Brizzi aufgeschnappt. Vom Personal vermutlich … Fürchterlich. Ich kann alles unterbinden, aber Klatsch leider nicht. Eine schreckliche Angewohnheit, der vor allem unsere weibliche Dienerschaft … Nehmen Sie das bitte nicht persönlich, liebe Cecilia. Ich weiß, dass Sie zu dieser Unart nicht neigen. Vincenzo geriet jedenfalls völlig außer Rand und Band. Die Hunde, … diese grausame Art des Sterbens – es scheint eine entsetzliche Faszination auf ihn ausgeübt zu haben. Er hat tagelang über nichts anderes gesprochen und das ganze Haus in Aufregung versetzt. Ich war überglücklich, als er wieder Interesse an einer gewöhnlichen Tätigkeit wie dem Singen zeigte.«
»Das sag ich ja, es wird zu viel über diesen ermordeten Bengel geredet«, mischte sich Abate Brandi in empörtem Ton ein. Sie hatten den Ausgang erreicht, und der Mönch winkte seinem Stallknecht, ihm das Kutschtreppchen auszuklappen.
»Nun ja«, meinte Arthur, »zumindest in diesem Haus ist es nicht das geeignete …«
»Der Junge ist unter der Erde und damit sollte ein Schlussstrich gezogen werden!« Brandi legte die Hand auf den Wagenrand und mühte sich auf den gepolsterten Sitz. »Wenn ich du wäre, Enzo – ich würde seiner Schwester noch einmal eintrichtern, dass sie sich lieber wieder um ihre Seife kümmern soll. Hat Feretti bedroht, was? Ist mit einem Messer auf ihn los? Ein seltsames Völkchen, die Leute aus den Sümpfen. Muss ihr doch einleuchten: Es liegt kein Segen auf solchem gottlosen Tun.«
»Wenn du es sagst«, meinte Rossi. Er klopfte Arthur auf die Schulter und geleitete Cecilia an den Kutschen vorbei. Liebenswürdig lehnte er Signora Fabbris Angebot ab, sie ein Stück weit mitzunehmen.
»Ich wäre gern gefahren«, sagte Cecilia, als sie durch den Wald zurück in Richtung Stadt gingen.
»Ja, aber ich muss nachdenken.«
»Findest du es auch seltsam, wie … mitleidslos der Abate über den armen Mario
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