Glaesener Helga
Kloster wusste, dass Enzo Rossi aus ärmlichen Verhältnissen stammte und seinen Aufstieg allein der Förderung großzügiger Gönner verdankte. Und seinem Verstand natürlich, der es ihm ermöglicht hatte, das Genieexamen abzulegen, mit dem der Granduca aus dem Acker seines Volkes die klugen Köpfe las. Aber wer gab schon etwas auf Verstand? Armut war gleichbedeutend mit Gier, ungehobelten Manieren, Berechnung, einem ungesunden Ehrgeiz, … mit allem, was den braven Schwestern so willkommen war wie Kakerlaken in der Speisekammer.
Und Dina war kaum geeignet, diesem Urteil etwas entgegenzusetzen. Man konnte sie kaum berechnend oder gar habgierig nennen, aber … nun ja, aufregende Einfälle flatterten auf sie herab wie Bonbons auf die Besucher eines Karnevalszugs. Man musste nur an ihren Versuch denken, ein verfrühtes Paradies zu schaffen, indem sie zwar nicht Löwe und Lamm, dafür aber Rosaria Foddis heimtückisches Katzenvieh und Fausta Lanzonis frisch geschlüpfte Küken in einem Gehege versammelte. Die Folgen der rührenden Idee waren auf ihren Hintern niedergeprasselt. Und dass sie Signora Foddi im anschließenden Disput gegen das Knie getreten hatte … Das Gebetbuch war auf keinen Fall verkehrt.
Ja, Kind, du wirst es schwer haben, dachte Cecilia, als sie sah, wie ihr Schützling auf einer Mauerbrüstung entlangbalancierte, mit angehobenen Röcken, unter denen verschiedenfarbige Strümpfe sichtbar waren.
»Komm da herunter.«
Dina schmollte, aber gehorchte. Seit Cecilia in jener schrecklichen Nacht im letzten Sommer in die Villa der Lottis eingebrochen war, um nach ihr zu suchen, war sie zu Dinas Heldin aufgestiegen. Ich hätte dich in der Hölle gesucht … Diese im Schock hervorgebrachte Äußerung hatte Dinas Liebe für die Ewigkeit zementiert. Wenn Cousine Cecilia die Stirn runzelte, dann war das für sie Anlass … nun, sich zumindest um Folgsamkeit zu bemühen .
»Wenn ich im Kloster bin, lerne ich Walzer tanzen. Und ich spiele Violine!«, schrie sie und sprang mit einem wolfsähnlichen Satz, der sie für das entgangene Balancieren entschädigen sollte, auf die Straße zurück. Sie spielte grässlich, aber leidenschaftlich, und manchmal hatte Cecilia das Gefühl, dass das Violinengedudel ihre eigene Art war, der Mutter ein Blumensträußchen aufs Grab zu stellen. Schließlich hatte Mamma ihr die Violine geschenkt, und Mamma hatte darauf gedrängt, dass sie täglich ihre Stunde übte.
»Kommen Sie mich besuchen? Ganz oft?«
»Sicher, mein Schatz.«
Fünf Minuten später waren sie wieder daheim, und aus der Küche drangen verheißungsvolle Düfte. Cecilia schnupperte … etwas Pikantes mit Apfelduft. Anita war ein Prachtstück. Es dämmerte bereits, und der Tisch im Speisezimmer war gedeckt. Im Kamin knisterte das Holz und versprühte Funken. Sofia hatte den zusammengekehrten Schmutz des Tages hineingeworfen, was man ihr einfach nicht abgewöhnen konnte, und so verbreiteten schmorende Haare ihr Aroma, aber das tat der gemütlichen Stimmung keinen Abbruch. Cecilia schloss die Fensterläden, und wenig später aßen sie zu Abend. Die gemütliche Lesestunde mit Dina, die sie geplant hatte, fand dann allerdings nicht statt.
»Du hast den Gesangsabend im Asyl vergessen«, sagte Rossi und zog seinen Mantel vom Haken.
Er irrte sich. Sie hatte Arthurs Einladung nicht vergessen, sondern aus ihrem Gedächtnis verbannt. Weil … nun, weil … Arthur war der beste Mensch auf Erden und sein Vorhaben, die Irren der Toskana zu heilen, lobenswert und die Geduld, mit der er allen Widrigkeiten entgegentrat, schier heldenhaft. Dennoch konnte man es nicht als angenehm betrachten, mit Menschen zusammen zu sein, die einander Kaffee in den Schoß gossen und kichernd fremde Besucher küssten. Es befremdete sie, und es jagte ihr Angst ein.
»Macht es dir nichts aus?«, fragte sie, als sie Rossi aus dem Haus folgte.
»Was denn?«
»Die Irren um dich zu haben.«
»Nein.« Er trat auf den Marktplatz und gähnte herzhaft.
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung.«
Es nieselte. Die Tropfen waren, den Temperaturen entsprechend, wie Eispfeile, die sich in die gespannte Haut bohrten. Cecilia bewegte die Hände, die selbst im Muff noch froren. Sie zog die Schultern hoch und achtete darauf, in der Dunkelheit nicht zu stolpern. Es wäre klug gewesen, eine Laterne mitzunehmen. In Florenz wurden die nächtlichen Straßen beleuchtet – hier stakste man bei wolkenbehangenem Himmel durch völlige Finsternis, die nur erhellt wurde, wenn Licht aus den
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