GLÄSERN (German Edition)
abzuholen, um sie eben der Frau zu übergeben, die sie tot sehen will?«
Das Säckchen hatte zwar eher die Ausmaße eines großen Sackes, jedoch behielt ich das in Anbetracht der Umstände für mich.
»Ammenmärchen!!«, brauste Lord Sandy auf. »Deine Fantasie geht wohl mit dir durch, Waldbursche! Wieso sollte die Lady den Tod ihrer Stieftochter wollen? Sie pflegt ihren Mann, seitdem sie Hals über Kopf ausgerissen ist! Verzeihen Sie, Madame. Und wenn Sie es bedenken, Ihr Tod, Madame Eirwyn, wäre wohl auch der seine. Glauben Sie nicht?«
»Na endlich! Ihre erste Erkenntnis? Kann es vielleicht sein, dass die bleiche Lady vor Neid nur so zerfressen ist, auf die Schönheit und die Vaterliebe, die Eirwyn genießt? Weil ihr Hektors Liebe nie ganz allein gehören wird! Aber so ist das nun mal in einer Familie. Was für eine Bestie muss in diesem Weib stecken, dass sie lieber beide tot sehen will!«
Sandys Blick spickte Kieran mit unzähligen scharfen Messern. Er sah aus, als wollte er einen Mord vor Zeugen begehen. Eirwyn trat zwischen die Streithähne, ihre Hände auf ihre Brust gelegt. »Meine Mutter liebt meinen Vater aufrichtig, das habe ich niemals bezweifelt. Nur ich war ihr stets ein Dorn im Auge. Schon seit ich auf der Welt bin, scheint mir.«
Lord Sandy nahm ihre zarten Finger vorsichtig in seine große Hand. »Meine Dame, verzeihen Sie meine unangemessenen Zweifel. Natürlich sind Sie in der Lage, diese Entscheidung selbst zu treffen, und ich vertraue Ihrem Pflichtgefühl gegenüber Graf Hektor. Ihre Mutter konnte die Familie nicht zusammenhalten, doch Sie haben die Gelegenheit, sie zumindest wieder zu versöhnen. Zeigen Sie Stärke, meine Liebe. Zeigen Sie Vergebung.«
Unfassbar! Was für ein niederträchtiger Schachzug. Auch Kieran trat erstaunt einen Schritt zurück und, obwohl er mich nicht anblickte, wussten wir beide, dass wir Lord Sandford maßlos unterschätzt hatten. Obwohl ich am eigenen Leib lernen musste, dass es womöglich klüger war, keine Menschenseele je zu unterschätzen, hatte er es uns doch allzu leicht gemacht, genau das zu tun. Ich sah hilflos zu, wie Sandford Eirwyns Gewissen beschwerte. Doch stand es mir nicht zu, mich selbst über meinen Status als simpler Bediensteter zu erheben. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie sich nicht ewig hinter ihren Ängsten verstecken konnte, denn das tat sie, und sie wollte es wohl für immer dabei belassen. Doch in diesem Moment schien sie sich anders zu besinnen. Ich sah sie mit sich selbst kämpfen. Und verlieren.
»Wenn du Recht hast, mein Herz«, sie sah zu Kieran, »dann muss ich wohl tatsächlich zurückgehen. Ich vermisse meinen Vater und ich glaube, ich muss mein Möglichstes tun, ihm in dieser schweren Zeit beizustehen.«
Sie hob den Blick und ihre Stimme wurde fester. Sie ignorierte Kierans warnenden Blick und verkündete: »Ich glaube, die beste Lösung wird es sein, dass mein Vater hier auf dem Gut mit mir leben wird. Sie haben Recht, Lord Sandford. Ich breche morgen mit Ihnen auf. Wer mich begleiten möchte, ist mir herzlich willkommen.«
Damit wandte sie sich mit wippenden Locken um, und noch während ich verwunderte Blicke mit Giniver tauschte, nahm sie Sarastro, der während der ganzen Schau nur einmal kurz den Kopf gehoben hatte, am Halsband und zog sich mit einem knappen Nachtgruß zurück. Den beiden Männern jagte noch immer das Adrenalin durch die Schläfen, keiner der beiden senkte den Blick. Eigentlich jedoch war Kieran derjenige, dem ich für das Nachfolgende alle Schuld gebe. Er drängte Sandy zurück, bis dieser mit dem Rücken zum Kamin stand.
»Schöner Schachzug, Sandford, sehr nett. Ihr Schuldgefühle gegenüber ihres sterbenden Vaters zu machen. Ausgezeichnet! So zeigt der vermeintliche Tölpel also sein wahres, verschlagenes Gesicht.«
Sandy hielt dem Blick stand.
»So hat wohl jeder von uns beiden sein kleines dunkles Geheimnis«, antwortete er leise.
Kieran legte fragend den Kopf schief.
»Hat dich der Graf also mit seinen wirren Geschichten und Hirngespinsten gegen seine eigene Frau aufzuhetzen versucht. Sag mir, Jägersmann, wie hast du eine Abschrift des Briefes erhalten?« fuhr Lord Sandy mit kühler Sachlichkeit fort.
Kieran kniff die Augen zusammen. »Ich weiß von keinem Brief. Welchen könntest du also meinen?«
Sandy lächelte schief. Ich hätte ihn ohrfeigen können bis in alle Ewigkeit. Was für eine äußerst dumme, jedoch in gewohntem Maße unvertretbare Idee von ihm, Kieran aus dem
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