GLÄSERN (German Edition)
Wie ärgerlich. Der Jäger folgte mir auf dem Fuße. Ich genoss es, einmal selbst den Leitwolf zu spielen. Ohne zu wissen, welchen Weg sie wohl eingeschlagen haben mochte, irrten wir eine Weile im Wald umher, riefen ihren Namen, der seltsam von irgendwoher widerhallte. Schließlich fiel mir ein, einer logischen Überlegung zu folgen und ging voran zu der Lichtung, wohin die Servants einst den gläsernen Sarg gebracht hatten. Mein kleines Detektivspiel erwies sich als goldrichtig und im letzten Mondlicht stand vor uns, zerbrochen in wenige große Stücke, der gläserne Sarg. Auf einer Seite erkannte ich große Flecken Blut. Davor kniete Eirwyn in ihrem dünnen Mantel, das Gesicht vom Haar verdeckt. Dieses Mal hielt eine Handvoll kleines Waldgetier, welches glücklicherweise pflanzliche Nahrung bevorzugt, respektvollen Abstand zu ihr. Langsam zogen wir uns wieder zurück. Doch sie hörte uns trotzdem in diesem unnatürlich stillen Wald, wieder bei Sinnen, und sie wandte sich um.
Sie sprach nicht, Kieran jedoch hob langsam beruhigend die Hände, damit sie sich nicht von uns stören lassen sollte. Er ließ seinen Mantel von den Schultern gleiten. Vorsichtig ging er auf sie zu und bedeckte ihre eiskalte Haut mit dem Leder.
»Ich warte auf dich an unserem Platz«, flüsterte er.
Sie nickte und lächelte ihm zu. Er küsste sie sanft auf die Stirn und ich fühlte mich erneut wie ein Außenseiter und wusste nichts mit mir anzufangen. Zurück zum Gut wollte ich nicht und hier im Wald wurde es mir langsam zu unheimlich. Sogleich zurückzukehren, um mich mit den Konsequenzen zu beschäftigen, welche die Bedrohung eines Edelmannes mit der eigenen Waffe sicherlich früher oder später nach sich ziehen sollten, klang ebenfalls wenig spaßig. Also beschloss ich, mich Kieran anzuschließen. Der wanderte inzwischen an mir vorbei, ohne mich zur Kenntnis zu nehmen und ich hätte mich ebenso gut in Luft auflösen können. Er marschierte westwärts, als würde er am helllichten Tag spazieren gehen und nicht im wirren Zwielicht. Leichtfüßig erklomm er den kleinen Hügel, von dem aus man den Wald zum größten Teil überblicken konnte. Ich versuchte, nicht zu heftig vor Anstrengung zu keuchen, denn der steile Marsch setzte meinen untrainierten Muskeln doch sehr zu. Oben ließ er sich an dem Rand des Gesteins nieder, starrte in den Morgenhimmel. Ich setzte mich neben ihn.
»Du willst sicher nicht bleiben«, bemerkte er.
»Nein.« Es ist schrecklich, wenn man, wie ich, nicht gern allein in fremden Wäldern unterwegs ist. Insgeheim hoffte ich, würde mir Eirwyn später erlauben, zu bleiben. In der Ferne rauschten Flügel. Ich blickte nach oben – Raben. Dann Stille, wie kurz vor einem losbrechenden Sturm.
Dunkle Ecken und eine düstere Zuflucht
Hätte einer von uns beiden irgendwie dem christlichen Glauben angehangen, er hätte sich wohl im Vorhof zur Hölle wiedergefunden. Denn noch vor dem endgültigen Anbruch des Morgens geschah Folgendes:
Wir beide saßen rauchend, mit baumelnden Beinen auf dem kleinen Hügel und überblickten den Wald. Wir rätselten über den Sinn des Dornengestrüpps, das sich direkt unter unseren Füßen wie ein Meer aus zornigen Seelen erstreckte, als urplötzlich ein Schatten aus dem Nichts über den Jäger herfiel. Kieran hatte durch den plötzlichen Angriff noch nicht einmal Zeit aufzuschreien, stieß mich jedoch reflexartig heftig aus der Angriffszone. Ich kreischte überrascht auf und hielt meinen Unterarm schützend vor mein Gesicht. Wir starrten beide auf den riesigen Schatten, der von violettem Morgenlicht umflutet wurde und als mächtiger Schemen erneut über uns hinwegflog. Auf einmal zeichneten sich blutige Striemen auf Kierans Hals ab, die sich beim dritten Angriff von irgendwoher zu Schnitten vertieften, als würde jemand ein kleines Messer durch das Gewebe ziehen. Blut quoll in kleinen Tropfen hervor.
Augenblicklich stürzte der Schatten wieder herab, um erneut in die Wunden zu schlagen. Kieran sprang auf die Beine, unfähig, ihm mehr als laute Flüche entgegenzuschleudern. Dann verschwand er sang- und klanglos wieder. Kieran blickte suchend gen Himmel und ich folgte seinem Blick. Nach einer Weile erkannte ich den Angreifer: die Rabenbotin Jezabel gab es nur einmal unter Tausenden in ihrer großen Rabenfamilie. Ebenso wie wir sie, schien auch sie uns zu beobachten, denn sie wartete ab, auf einem Stück Fels kauernd wie eine Totengräberin. Sie sah in Kieran wohl einen durchaus würdigen
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