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GLÄSERN (German Edition)

GLÄSERN (German Edition)

Titel: GLÄSERN (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rona Walter
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Seite, ohne ihn wirklich zu sehen. Um zu begreifen – doch ich konnte es nicht.
    Welche Teufelei hatte Ginivers Schuh hier in diesem Eisschloss zu Boden fallen lassen? Vergeblich versuchte ich, mich zu weigern, das zu erkennen, was allzu offensichtlich auf meiner Handfläche lag; zu erkennen, was hier in Wirklichkeit vor sich ging. Lord Sandfords begehrliche Blicke, sein anzügliches Lippenlecken, wenn er meine Freundin in einem scheinbar unbeobachteten Augenblick ansah, aus den Augenwinkeln, verstohlen, damit nur niemand allzu schnell seine Begierde nach ihr entlarvte … Ich taumelte, spürte, wie kalte Tränen versuchten, aus meinen Augen zu quellen, es aber nicht schafften. Ich griff nach der Lehne des Sessels, fasste ins Leere, stieß stattdessen mit der Stirn dagegen und ging auf allen Vieren zu Boden. Endlich stieß ich den aufgesparten Atem aus, der sich sofort wie ein fadenscheiniges Tuch über den Fußboden ergoss. Kieran lief erschrocken zu mir, um mir aufzuhelfen. Ich schüttelte ihn brüsk ab. Zitternd hob ich die Hand mit dem Schuh Ginivers und deutete mit dem Finger auf die verschlossene Tür.
    »Brich sie auf«, keuchte ich mit letzter Kraft. »Zerschmettere verdammt noch mal diese beschissene Tür!!!«

    Es war einmal … vor langer Zeit … Nun, genauso hatte der alte Mann im ›Hinkenden Kobold‹ seine Geschichte nicht begonnen. Dennoch, allzu lange mag es wohl nicht her sein. Zumindest sprachen die alten Waschweiber und Märchenonkel in den Dörfern ganz Europas oft über einen Mörderbräutigam mit seinen fragwürdig jungen Bräuten. Über eine blutige Kammer berichteten sie. Und über eine unerfüllte und sehr bedauerliche Hassliebe.
    Der Alte hatte mir diese Geschichte mit auf den Weg gegeben und nun gebe ich sie weiter, in der Hoffnung, dass sie ebenfalls auf offene Ohren stoßen wird:

    Selten sieht man ihn in die Städte einreiten. Stets allein auf seinem schnaubenden schwarzen Ross, dessen dunkles Fell jedoch geisterhaft schimmern soll, entgegen dem schwarzen Bart seines Reiters, der einen unheimlichen, bläulichen Schimmer besitzt. Mysteriös und zugleich gefährlich zieht er die Damen in seinen Bann, unwiderruflich und mit rücksichtsloser Gewalt.

    Ja, lieber Leser, auch ich kann ebenso wenig glauben, dass es sich hierbei um unseren Lord handeln sollte, um unseren Stinker mit dem linkischen Gehabe. Doch er ist es, der noch vor wenigen Wochen zu später Stunde eines der hiesigen Wirtshäuser betreten haben soll, den Rahmen der Tür ausfüllend wie ein Fels im Mondlicht.

    Man habe nie vorhersagen können, wann er kam, denn niemals kündigte er seine Rückkehr aus fremden Ländern an, von denen die Bauern höchstens ein Sandkörnchen und einige zugeschnürte Säcke und fest verschlossene Kisten gesehen haben. Oftmals soll er sich sogar monatelang nicht blicken lassen …
    Schlagartig, so erzählte man stets, erlischen alle Kerzen und Lampen. Mit schweren Schritten wie Blei beträte er die Schankräume der Pubs. Stets soll er nach dem schönsten Mädchen im Dorfe schicken lassen – gleich, ob Magd oder Bäuerin, Hiesige oder Durchreisende. Nur die Schönste solle sie sein und blutjung zudem.

    Woran es schlussendlich lag? An einem ›Zauber‹ im abergläubischen Sinn? An der mysteriösen Ausstrahlung, die ihm der eigenwillig blaue Bart verlieh? Oder, ob es simpler Zwang war, um einen brüchigen Frieden zu erhalten? Zu seinem riesenhaften Pferd folgten sie ihm alle und begaben sich mit ihm in sein Schloss. Die brachiale Mystik im Erscheinungsbild Sandfords, die tief liegenden schwarzen Nachtaugen, die buschigen Brauen und der mächtige Körper von stattlicher Größe wurden mir plötzlich auf ganz andere Art bewusst. Nicht Grobschlächtigkeit, sondern pure Rohheit machte diesen Mann im Augenblick der Geschichte nicht im Geringsten zu einer Witzfigur. Er besuchte also in regelmäßigen Abständen Dörfer in Frankreich, in Deutschland und den britischen Inseln. Einmal soll er sogar einen Teil seines Hausrats in eine Stadt namens Prag gesandt haben.

    Als Ehegatte scheine er natürlich zuerst suspekt, da mehrmals verheiratet und niemand wisse etwas über den Verbleib seiner Gattinnen. Fast als ein handgreifliches sexuelles Symbol solle der blaue Bart auf die Mädchen wirken, sagte der Alte. Als eine Art erotische Initiation. Zugleich aber, meinte er weiter, habe der Bräutigam eine abstoßende und gleichermaßen anziehende Ausstrahlung. Man sagt, er solle eine harte Hand haben, ein kalter

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